Kapitel 5
Die Insel Karthay
Die beschädigte Castor war dabei, aus der Bucht in die offene See einzufahren. Während er dem Schiff von der Küste aus nachsah, zog Tanis den Sack zurecht, den er auf dem Rücken hatte. Er enthielt ein paar Vorräte, die Kapitän Nugeter ihnen überlassen hatte. Neben ihm stand Flint, der von einem Bein aufs andere trat, um dadurch sein verwundetes Bein möglichst zu entlasten, ohne daß es jemand bemerkte. Kirsig jedoch betrachtete den Zwerg besorgt.
Yuril und die anderen vier Matrosinnen von der Castor, die beschlossen hatten, daß der Dienst auf einem halben Wrack nicht nach ihrem Geschmack war, zogen gerade ihre beiden kleinen Boote den Strand hinauf. Tanis hoffte, daß sie nicht eine unangenehme Arbeit gegen eine schlimmere eingetauscht hatten.
Raistlin stand abseits von den anderen mit dem
Rücken zum Meer und musterte das Gelände.
Der schmale, steinige Streifen Strand ging in niedrige Sanddünen
über. Dahinter stieg das Land an und bildete ein Labyrinth aus
Schluchten und Plateaus. Soweit das Auge reichte, war die Gegend
kahl und wenig einladend.
Obwohl es noch Vormittag war, brannte die Sonne heiß und hell vom
Himmel. Ein trockener Wind wirbelte den Sand an der Küste auf.
Tanis merkte, wie der Staub in seine Kehle drang.
Eine Hand streifte den Arm des Halbelfen. Sie gehörte Raistlin. Der
junge Zauberer hatte die unangenehme Angewohnheit, sich so leise zu
bewegen, daß es schwer war, ihn im Auge zu behalten.
Raistlin schien von der aufgebrochenen, herben Landschaft wenig
abgeschreckt zu sein. »Ich rechne mit zwei Tagesreisen ins
Landesinnere, bis wir die Ruinen der alten Stadt erreichen«, sagte
der Magier leise zu Tanis. »Glaubst du, daß Flints Bein
mitspielt?«
»Sein Bein ist viel besser«, erwiderte Tanis. »Der alte Zwerg hält
wahrscheinlich länger durch als wir alle.«
Beide Männer warfen einen Blick auf Kirsig, die sich um Flint
bemühte, wohl um ihm eine Salbe für sein Bein anzubieten, während
der Zwerg grummelnd versuchte, sie zu verscheuchen. Aber nicht
allzu nachdrücklich, wie Tanis feststellte. Er und Raistlin
grinsten sich an.
Als Tanis sich wieder umdrehte, schwand sein Anflug von guter
Laune. »Raistlin, fragt sich nur: Was ist unser Ziel? Du hast uns
nicht gerade viel über den Spruch erzählt, der deiner Meinung nach
ein Portal öffnet, um diesen bösen Gott oder was-auch-immer in die
Welt zu lassen.«
Raistlin bemerkte nicht nur die Ungeduld, sondern auch den Hauch
von Skepsis in Tanis’ Stimme. »Du hast doch bestimmt im Land des
Volks deiner Mutter etwas über die alten Götter gelernt«,
antwortete der junge Magier, obwohl er wußte, daß jede Anspielung
auf Tanis’ gemischte Herkunft den Halbelfen verletzen konnte.
Raistlin sah, daß seine Worte getroffen hatten, denn Tanis stieg
die Röte ins Gesicht.
»Ich kann nicht schwören, daß der Spruch, den ich entdeckt habe,
ein Portal öffnet oder ob alte Götter wie Sargonnas mehr als Sagen
sind«, fuhr der Zauberer schroff fort. »Ich weiß allerdings, daß es
ein alter und mächtiger Zauberspruch sein müßte. Und ich weiß
eines: Wenn die Möglichkeit besteht, daß Sargonnas in diese Welt
eintritt, dann ist es an uns, dies um jeden Preis zu
verhindern.«
»Was ist mit Sturm und Caramon und Tolpan? Sind die irgendwo auf
dieser Insel?« fragte Tanis. »Sind die nicht der Grund, warum wir
eine so weite Reise hinter uns haben?«
»Ich kann keinen Zauberstab schwenken, um festzustellen, ob sie
hier sind oder nicht«, fauchte Raistlin, »aber du hast gehört, was
Kirsig gesagt hat. Die Minotauren schließen Bündnisse mit anderen
Rassen. Wenn, wie ich vermute, die Minotauren in ihrem uralten
Traum befangen sind, die Welt zu erobern, und dazu Sargonnas holen
wollen, damit er ihnen hilft, ist es egal, wo Caramon und die
anderen sind. Wir schweben alle in höchster Gefahr.«
Raistlin hielt inne und atmete tief durch. Sichtlich ruhiger fuhr
er fort: »Das Jalopwurzpulver war nur eine der benötigten
Zauberzutaten. Der Zauber verlangt auch ein akzeptables Blutopfer
für Sargonnas. Ich vermute, daß man Caramon, Sturm und Tolpan
vielleicht deshalb in diesen Teil der Welt geschleppt hat. Einer
von ihnen könnte das benötigte Opfer sein.
Wir haben wenig Zeit. Der Zauber kann nur bei bestimmten
Konjunktionen von Sonne, Monden und Sternen stattfinden. Diese
Konjunktionen kommen nur alle hundert Jahre einmal vor, und die
nächste ist in nur drei Nächten.
Jetzt laß mich dir eine Karte zeigen, die ich aus einem alten Atlas
in Morats Bibliothek abgemalt habe.«
Tanis wartete. Er war überzeugt. Mit Flint und Kirsig, die die
heftige Diskussion mitangehört und sich zu ihnen gesellt hatten,
betrachtete der Halbelf ein Stück Pergament, das Raistlin
hervorgezogen hatte. Es war mit krakeligen Linien und
geographischen Symbolen bedeckt. Yuril und die anderen
Seefahrerinnen kamen eilig dazu. Alle drängten sich um den jungen
Magier.
»Ich glaube, der Zauber wird irgendwo in oder bei den alten Ruinen
der Stadt Karthay gesprochen werden«, sagte Raistlin. »Die Stadt
wurde während der Umwälzung durch einen Vulkanausbruch zerstört und
unter tonnenweise Asche und Lava begraben. Für die Minotauren ist
es ein heiliger Ort.« Er zeigte auf eine Stelle der Karte, wo ein
Bergzug eingezeichnet war. »Sargonnas ist der Gott der Wüsten, des
Feuers und der Vulkane«, fügte er hinzu.
»Der Karte nach müßten wir eigentlich rechtzeitig ankommen, aber
die Reise dürfte gefährlich werden. Jedem, dem diese Aussichten
nicht zusagen, steht es frei, hierzubleiben und auf uns zu warten.«
Dabei sah Raistlin auf, schaute aber nicht Flint an, sondern Yuril
und ihre Matrosinnen.
Diese hatten anscheinend schon über das Risiko gesprochen. »Ich
habe eine offene Schuld zu begleichen«, meinte die sehnige Yuril,
»und meine Freundinnen hier ziehen nicht zum ersten Mal auf
Abenteuer aus. Ich spreche für alle, wenn ich sage, daß wir unser
Glück mit euch versuchen wollen.« Yuril hatte das voller Stolz
gesagt. Eine Hand lag am Griff des Kurzschwerts, das an ihrer Hüfte
hing. Man sah die Muskeln ihrer gebräunten Unterarme.
Wir können von Glück sagen, daß sie und die anderen dabei sind,
dachte Tanis.
»Diese tote Stadt«, meldete sich Flint, »ist doch sicher gut
bewacht, und Sturm und Caramon und der verwünschte Kender ebenso.
Was hast du vor, wenn wir dort sind?«
»Das weiß ich nicht«, gestand Raistlin. »Ich kann es erst sagen,
wenn wir wissen, wie viele Soldaten das Gebiet bewachen.
Gemeinsam«, fügte er mit einem Blick auf Tanis hinzu, »sollten wir
einen Plan ausklügeln können.«
Tanis merkte, wie es ihm eng ums Herz wurde, weil er einmal mehr an
Kitiara dachte. Er wandte sich von der Gruppe ab und tat so, als
wollte er das unwirtliche Land betrachten.Sie folgten Raistlins
Karte und wählten einen Pfad an einem Fluß entlang, der vor langer
Zeit vom Dach der Welt zum Meer geströmt war. Jetzt war er
ausgetrocknet und hatte nur aufgesprungene, von der Sonne
zusammengebackene Erde zurückgelassen.
Der Flußlauf führte durch zahllose Abgründe und Schluchten bergauf
und bergab. Nach Möglichkeit hielten sie sich an das staubige
Flußbett. Zu anderen Zeiten folgten sie dem trockenen Fluß auf
höher gelegenen Pfaden. Dann liefen sie im Gänsemarsch auf schmalen
Uferwällen entlang. Den ganzen Tag behielten sie ihren Kurs bei,
kamen aber durch das Hoch- und Runterklettern und die vielen
Biegungen so unüberschaubar langsam voran, und Tanis fragte sich,
welche Strecke sie eigentlich wirklich zurückgelegt hatten. Während
sie auf einem der vielen Plateaus eine Pause einlegten, war der
Halbelf froh, als er sah, wie weit das Blutmeer hinter ihnen lag,
derweil ein gewaltiger Bergzug etwas nähergerückt war.
Das Land wirkte leer – frei von Bewuchs, Tieren, von allem Leben.
Der starke, trockene Wind fegte über die höheren Erhebungen, blies
ihnen ins Gesicht und trieb ihnen Sand in die Augen und in die
Kehle. Über ihnen glühte die Sonne und verbreitete eine Hitze wie
in einem Ofen, die höchstens die tiefsten Felsschluchten ausnahm.
Wenn sie jedoch plötzlich bergab in kühle Schatten eintauchten,
spürten sie den Hauch von etwas Schlimmerem – der bitteren Kälte
des Landes bei Nacht.
Am späten Nachmittag war die kleine Gruppe erschöpft und entmutigt.
Raistlin und Tanis führten die Reihe an, denn gemeinsam leiteten
sie die Gruppe. Flint und Yuril bildeten die Nachhut. Schweigend
durchwanderten die Gefährten den Grund einer Schlucht, waren jedoch
nicht mehr so zuversichtlich, daß sie den richtigen Weg
eingeschlagen hatten.
Ganz plötzlich stießen Raistlin und Tanis hinter einer Biegung auf
eine glatte Felswand, die unerklimmbar vor ihnen aufragte. Rechts
und links ging es senkrecht fünfzig Fuß in die Höhe. Wieder einmal
hatte die Gruppe keine andere Wahl als umzukehren und in den
eigenen Fußstapfen zurückzulaufen.
Bis Flint und Yuril aus der Schlucht geklettert waren und Raistlin
das trockene, gewundene Flußbett unten wieder sichtete, ging
bereits die Sonne unter. Tanis spürte einen ersten Kälteschauer,
als Dunkelheit sich über dem Land ausbreitete. Er sah Flint auf den
Boden sinken. Sein Gesicht war von Schweiß und Dreck verschmiert.
Die meisten der Seefahrerinnen folgten seinem Beispiel
sofort.
Raistlin warf neben ihm einen Blick auf die Karte. Er drehte das
Pergament in den Händen, um irgendwie herauszufinden, welches der
beste Weg war.
»Der alte Fluß teilt sich immer wieder und ändert die Richtung«,
sagte der junge Magier erschöpft.
»Deine Karte muß hundert Jahre alt sein«, sagte Tanis. »Wer weiß,
wie viele Erdrutsche und Erdbeben es seitdem hier gegeben
hat?«
Raistlin sah ihn stirnrunzelnd an. »Ich glaube nicht, daß einer von
uns heute noch weiter kommt«, meinte der Halbelf leise mit einem
Wink auf die Gruppe, die hinter ihnen zusammengesunken
war.
»Ich habe dir gesagt«, erklärte der Zauberer scharf, »daß es
schwerwiegende Folgen haben kann, wenn wir nicht innerhalb von zwei
Tagen in Karthay sind.«
»Vielleicht sind die Zwillingsmonde später in der Nacht so hell,
daß wir ein gutes Stück schaffen«, sagte Tanis diplomatisch. »Aber
hier und jetzt wäre es das beste, wenn wir Rast machen und essen.
Außerdem meine ich, ich hätte tagsüber ein paar Gruben von
Ameisenlöwen gesehen, und da wollen wir doch kaum im Dunkeln
hineinstolpern.«
Flint war hinter ihm aufgetaucht. »Gruben von Ameisenlöwen?« fragte
der Zwerg besorgt. »Ich stimme Tanis zu. Laßt uns hier das
Nachtlager aufschlagen.«
Raistlin zögerte.
»In einer der Schluchten wäre es geschützter«, fügte Flint hinzu,
»aber wir wären auch leichter anzugreifen.« Tanis nickte.
Mit einem tiefen Seufzer gab Raistlin nach. Sein blasses,
abgespanntes Gesicht verriet plötzlich starke Erschöpfung. Tanis
war ziemlich sicher, daß der junge Zauberer nicht mehr lange
durchgehalten hätte.
Jeder war froh über diese Entscheidung.
Als die Nacht hereinbrach, fiel die Temperatur immer weiter ab. Der
Wind wurde bitterkalt. Sie lagerten hinter ein paar Felsen. Obwohl
die Felsen gegen den beißenden Wind nur einen armseligen Schutz
boten, hatten sie einen anderen Vorteil, wie Flint auffiel. »Im
Dunkeln wird es jedem Angreifer schwerfallen, zu unterscheiden, was
Stein ist und was lebendig«, sagte der Zwerg, »und wir werden
doppelt so viele erscheinen, wie wir wirklich sind.«
Yuril meldete sich freiwillig zur abendlichen Jagd, aber Tanis
schlug ihr Angebot aus. »Es ist schon zu dunkel«, erklärte Tanis.
»Wenn überhaupt jemand jagen geht, dann ich, da ich nachts sehen
kann. Aber selbst wenn ich etwas erlegen würde, könnten wir es
nicht kochen. Raistlin und ich sind uns einig, daß wir kein Feuer
machen sollten, bis wir ganz sicher sind. Auf diesem hohen Plateau
wäre ein Feuer wie ein Leuchtturm.«
Die kleine Gruppe drängte sich im Windschatten der Steine zusammen.
Tanis ging von einem zum anderen, um den Proviant zu verteilen, den
er trug – kleine Stücke Brot, Trockenfrüchte und eine halbe Tasse
Wasser für jeden. Sie waren den ganzen Tag an keinem Bach, keiner
Quelle vorbeigekommen, wo Tanis seinen Wasserschlauch hätte
auffüllen können. Als er bei Flint ankam, bemerkte Tanis, daß
Kirsig nicht wie üblich an der Seite des Zwergs war. »Wo ist
Kirsig?« fragte der Halbelf irritiert.
»Keine Sorge«, raunzte der Zwerg. »Die ist weggehuscht, um
irgendwas zu machen, nachdem du dich übers Feuer ausgelassen hast.
Jetzt habe ich wenigstens mal meine Ruhe.«
Erschrocken über diese Neuigkeit blickte Tanis auf das dunkle
Plateau hinaus, sah jedoch keine Spur von der Halbogerin. Trotz
seiner Proteste spähte auch Flint nervös in die anbrechende Nacht.
Da kam Kirsig herangetrottet. Sie hatte eine dicke Tasche
dabei.
»Hallo, ihr Süßen. Ihr habt euch doch keine Sorgen um mich gemacht,
oder?« fragte sie und kniff Flint in die Wange. »Ich dachte bloß,
da wir nicht soviel Grünzeug dabei haben, sollte ich mal sehen, was
ich ausgraben kann. Und ich hab’ gegraben!« Triumphierend hielt sie
die Tasche hoch.
»Schmackwurzeln«, verkündete Kirsig. Sie streckte ihnen den Sack
entgegen und bestand darauf, daß jeder etwas von seinem Inhalt
nahm. Tanis griff hinein und wählte das kleinste Exemplar, das er
finden konnte. Die Schmackwurzel war grün, fleischig und feucht.
Von der Konsistenz her ähnelte sie einer rohen Kartoffel. Tanis
knabberte an einem Ende der Wurzel.
Sie schmeckte süß und besänftigte seine Kehle beim Schlucken mit
willkommener Feuchtigkeit.
»Das Beste auf der Welt, wenn man mitten in der Wüste festsitzt,
sagte mein Papa immer«, schwatzte Kirsig, während sie die
Schmackwurzeln verteilte.
Raistlin war gleich nach Tanis gekommen und griff zu. »Ich habe
schon von Schmackwurzeln gelesen«, sagte der junge Magier, der die
exotische Wurzel eifrig probierte. »Die Pflanze heißt auch
Wüstenbalsam und hat schon vielen Reisenden das Leben gerettet, die
in trockenen Gegenden gestrandet sind. Aber es überrascht mich, daß
jemand bei Nacht welche finden und ausgraben kann.« Bei einem Blick
auf Flint sah Tanis, daß der graubärtige Zwerg strahlte wie ein
Lehrer, dessen Lieblingsschüler seine Sache gut gemacht
hat.
Die Schmackwurzeln vertrieben fürs erste den Trübsinn, der sich bei
Einbruch der Dunkelheit unter den Wanderern ausgebreitet hatte.
Jeder aß sich satt, und trotzdem hatte Kirsig für den kommenden Tag
noch eine Tasche übrig. Nach diesem Abendessen gingen alle daran,
sich bestmöglich auf eine unruhige Nacht auf kaltem, hartem Boden
vorzubereiten. Wolken zogen vor die Sterne. »Ich übernehme die
erste Wache«, meldete sich Tanis freiwillig.
»Ich würde auch gern die erste Wache nehmen«, erklärte Raistlin zur
Überraschung von Tanis und Flint. »Ich bin noch nicht müde genug
zum Schlafen«, meinte der Magier, »und ich könnte in der Stille
meine Gedanken ordnen.«
Tanis zögerte kurz. Dann zuckte er mit den Achseln. Nachdem er sich
jedoch einige Minuten herumgewälzt hatte, stellte er fest, daß er
ebenfalls nicht schlafen konnte. Er stützte sich auf einen
Ellbogen, dann setzte er sich auf. Langsam gewöhnten sich seine
Augen an die Finsternis, so daß er mehr sehen konnte als die Auras,
die seine normale Nachtsicht ihm zugestand.
Raistlin lehnte an einem Felsen und blickte in den Himmel. Die
Haare fielen ihm ins Gesicht. Der junge Magier schien ganz in
Gedanken zu sein.
Tanis zuckte zusammen, als ein lautes Grollen die Stille
durchbrach. Dann mußte er lächeln, da es nur Flints Schnarchen war,
das heute abend von Kirsigs verstärkt wurde. In den Schnarchpausen
drang ein Rascheln wie von Sandpapier oder von einem kleinen
Nachttier, das über den Boden huscht, an sein Ohr.
Tanis hob abrupt den Kopf. Raistlin tat dasselbe, wie er sah. Das
sandpapierartige Wispern war lauter geworden, bis es nicht mehr vom
Boden, sondern oben vom Himmel zu kommen schien. Tanis sah nichts,
bis er ein schweres Gewicht auf seine Schultern fallen spürte. Dazu
kam das Gefühl, erstickt zu werden. Er versuchte, einen Warnruf
auszustoßen, doch beim Einatmen fühlte sich sein Mund so an, als
wäre er voller Federn. Als er nach dem Messer an seinem Gürtel
greifen wollte, merkte er, daß er die Arme nicht bewegen konnte,
denn sie waren an seine Seiten gedrückt. Scharfe Krallen piekten in
seinen Hals.
Erstickte Geräusche von außerhalb seines Federkokons verrieten ihm,
daß die anderen in derselben prekären Lage steckten. Plötzlich
erklang über seinem Kopf eine klare, melodische Stimme, die in der
Gemeinsprache sagte: »Das sind keine Stiermenschen. Sie sind mehr
wie du und dein Freund.«
Der Federkokon ging auf, und eine Fackel vor Tanis’ Gesicht
blendete den Halbelfen kurzfristig. Tanis sah sich in einer
kraftvollen Umarmung gefangen.
»Tanis, der Halbelf! Ich wußte nicht, ob ich dich je wiedersehen
würde. Und Raistlin, mein Bruder!«
Jetzt war der Magier an der Reihe, sich in Caramons feste Arme
schließen zu lassen.
Raistlin lächelte breit. »Wir haben erwartet, einen Gefangenen zu
finden, Bruder, keinen Häscher«, meinte der junge Zauberer. »Aber
wie ich Tanis schon sagte, ich habe damit gerechnet, daß wir dich
irgendwie wiederfinden würden – am Leben und wohlauf.«
Die Zwillinge standen Seite an Seite. Caramon hatte seinen starken
Arm um die schmalen Schultern seines Bruders gelegt. Im flackernden
Licht der einzelnen Fackel staunte Tanis nicht zum ersten Mal, wie
die Majerezwillinge zugleich so ähnlich und doch so verschieden
sein konnten. In diesem Augenblick wurde der Unterschied von dem
federbesetzten Lederriemen verstärkt, den Caramon um den Kopf trug.
Dazu die Federn, die aus seinen Schultern zu sprießen schienen,
aber zweifellos nur an seine Tunika genäht waren.
Als er sich im flackernden Fackelschein umsah, kam es Tanis so vor,
als ob denen, die Caramon begleiteten, auch Federn wuchsen. Tanis
blinzelte. Der Halbelf war sich nicht ganz sicher, aber diese
großen Wesen – sie waren mindestens einen Kopf größer als Caramon,
und der war schon über sechs Fuß groß – schienen statt Armen Flügel
zu haben!
Flint, der zu ihm trat, blickte die Neuankömmlinge mißtrauisch an
und stellte die naheliegende Frage: »Willst du uns nicht deinen
Freunden vorstellen oder ihnen wenigstens sagen, daß sie uns nicht
als Feinde anzusehen brauchen?« fragte der Zwerg Caramon mit einem
nervösen Blick auf die gefiederten Wesen.
Caramon grinste breit. »Ich bitte um Verzeihung. Aber ihr braucht
keine Angst zu haben.« Er zeigte auf das halbe Dutzend Wesen, die
mit ihm eingetroffen waren – die nämlich ihn und Sturm durch die
Luft getragen hatten. »Das sind meine Freunde, die Kyrie, ein edles
Volk und eingeschworene Feinde der Minotauren. Sie haben Sturm und
mich aus dem Kerker gerettet, als wir auf der Insel Mithas
eingesperrt waren.«
Er drehte sich etwas und zeigte auf den Kyrie neben
Raistlin.
»Wolkenstürmer, das sind mein Bruder Raistlin und meine Freunde,
Flint Feuerschmied und Tanis, der Halbelf, aus Solace. Die Frauen
kenne ich nicht«, fügte Caramon hinzu. Er warf einen kritischen
Blick auf Kirsig und dann einen ausgesprochen anerkennenden Blick
auf Yuril und ihre Matrosinnen. »Auch wenn ich mich darauf freue,
sie kennenzulernen«, endete er mit einem deutlichen Zwinkern an die
statuenhafte Yuril. Sie erwiderte die Geste nicht, kehrte sich aber
auch nicht ab.
»Wo ist denn Sturm?« fragte Flint, der nicht bereit war, seine
lebenslange Skepsis bezüglich merkwürdiger Rassen einfach so
fallenzulassen, bloß weil Caramon es sagte. »Und, auch wenn ich gar
nicht sicher bin, ob ich das wirklich wissen will, was ist mit
Tolpan?«
»Ich bin hier«, kam eine rauhe Stimme von außerhalb der Reichweite
der Fackel. Der Kyrie, Vogelgeist, trat beiseite, um den Blick auf
Sturm freizugeben, der sich gerade aufrappelte. Zu seiner großen
Beschämung war der Solamnier kurz nach der Landung der Kyrie im
Lager der Freunde ohnmächtig geworden. Seit seiner Rettung aus der
Grube des Untergangs waren erst eineinhalb Tage vergangen. Sturm
hatte noch keine Gelegenheit gehabt, sich von all dem zu erholen,
was er durchgemacht hatte – schiffbrüchig, eingesperrt, geschlagen
und im Duell fast getötet. Er hinkte zu ihnen.
Flint starrte ihn an. In dem schwachen Licht sah Sturms Gesicht
eigenartig schief aus. »Was hast du denn mit deinem Schnurrbart
gemacht?« fragte der Zwerg ungläubig.
»Ach was, Schnurrbart. Siehst du denn nicht, daß es dem armen Kerl
schlecht geht?« schalt Kirsig, die an Sturms Seite eilte. »Komm
her, Süßer, laß mich dir helfen.«
Obwohl er viel zu wohlerzogen war, um vor dem grotesken Aussehen
der Halbogerin zurückzuschrecken, sah Sturm Flint fragend
an.
»Oh, keine Sorge. Die ist in Ordnung«, sagte der Zwerg schroff.
»Und gar nicht so übel als Heilerin.«
Raistlin meldete sich zu Wort. »Sie ist erheblich besser als das,
Sturm. Kirsig war während unserer Seereise und unserer bisherigen
Wanderung unbezahlbar.« Yuril und die anderen stimmten murmelnd zu.
Mit vor Freude rotem Gesicht nahm Kirsig Sturms Hand und führte ihn
zu ihrem Gepäck.
»Was machst du eigentlich hier?«
Diese Frage kam Caramon und Raistlin gleichzeitig von den Lippen.
Trotz der kalten Nachtluft und trotz der widrigen Umstände mußten
die Zwillinge sich angrinsen.
»Ich vermute, daß wir uns lange Geschichten zu erzählen haben.
Vielleicht sollten wir erst einmal Feuer machen, um beim Erzählen
unsere Knochen zu wärmen«, schlug der Kyrie mit Namen Wolkenstürmer
vor.
»Wir haben kein Feuer gemacht, weil wir fürchteten, es könnte
verraten, daß wir hier sind«, erklärte Tanis.
»Keine Bange«, versicherte ihm Wolkenstürmer. »Unsere Späher
durchstreifen den Himmel über der Insel. Im Westen gibt es nur
rauhe, unwirtliche Wüste, weit im Norden einen bergigen Regenwald.
Die einzigen Minotauren, die wir gesichtet haben, lagern am Fuß der
Gipfel vom Dach der Welt in den Ruinen der alten Stadt Karthay. Auf
dem Landweg sind es von hier aus zwei bis drei Tage, für einen
Kyrie nur einige Flugstunden.«
Die Kyrie hatten eine kleine Menge Feuerholz und Zunder dabei. Als
schließlich ein Feuer brannte, hatten alle bessere Laune. Die
gemischte Gesellschaft kauerte sich um die Flammen.
Kirsig machte Wasser heiß, um einen besonderen Tee für Sturm zu
brauen, der jetzt, bei Licht betrachtet, blaß und mitgenommen
aussah. Caramon hingegen wirkte dünner, aber robuster. Er war immer
noch eine eindrucksvolle Erscheinung. Jedenfalls war Yuril, die dem
jungen Krieger gegenüber saß, augenscheinlich dieser
Meinung.
Während Sturm seinen Tee schlürfte, erzählte Caramon von dem Verrat
an Bord der Venora, dem Zaubersturm, der
ihn mit Sturm und Tolpan über Tausende von Meilen ins Blutmeer
versetzt hatte, der Entführung von Tolpan, und wie man sie über
Bord geworfen hatte. Über seine und Sturms lange, qualvolle Tortur
im Meer ließ Caramon sich nicht weiter aus. Als er aber über ihre
Gefangenschaft in Atossa zu reden begann, richtete Raistlin sich
auf und hörte besonders interessiert zu.
»Zuerst hatten uns die Minotauren wohl gefangengenommen, um Sklaven
aus uns zu machen. Oder wir sollten zu ihrem Spaß als Gladiatoren
kämpfen«, erzählte Caramon.
»Aber nachdem die Kyrie Caramon gerettet haben, kamen ein paar
hochrangige Minotauren und stellten Fragen«, warf Sturm mit leiser
Stimme ein. »Sie kannten deinen Namen, Raistlin – und auch Kitiaras
– und erwähnten einen gewissen Nachtmeister. Das Seltsamste daran
war, daß Tolpan bei ihnen war und ihnen zu helfen
schien.«
»Tolpan?« fragte Flint ungläubig. »Ich habe den kleinen Kender nie
für einen Helden gehalten, aber daß er gemeinsame Sache mit den
Minotauren macht, die dich gefangenhalten – vielleicht haben sie
ihn nur unter irgendeiner Drohung mitgeschleppt, damit du glaubst,
er würde ihnen helfen. Um deinen Widerstand zu brechen.«
»Keiner hat Tolpan zu irgend etwas gezwungen«, erwiderte Sturm
bitter. »Er hat ihnen freiwillig die Feinheiten der Folter erklärt.
Außerdem war es Tolpan Barfuß, der meinen Schnurrbart abgeschnitten
hat!« Sturm schwieg, um seinen Zorn zu beherrschen. »Und was viel
schlimmer ist: Es war Tolpan, der vorgeschlagen hat, daß ich ein
Duell auf Leben und Tod in der Grube des Untergangs kämpfen sollte.
Nach allem, was ich mitbekommen habe, bevor unsere Freunde, die
Kyrie mich retteten, glaube ich, daß die Minotauren Kitiara
irgendwo auf dieser Insel gefangenhalten. Deshalb sind wir
hierhergekommen, ohne überhaupt zu ahnen, daß ihr in der Nähe
seid.«
»Wir versuchen, jede ungewöhnliche Truppenbewegung der Minotauren
im Auge zu behalten«, fügte Wolkenstürmer hinzu. »Vor einigen
Monaten haben wir beobachtet, daß sie in den Ruinen der alten Stadt
Karthay ein Lager aufgebaut haben. Jetzt sieht es so aus, als
würden mit jeder Woche mehr Stiermenschen dort
eintreffen.«
Raistlin war inzwischen so aufgeregt, daß er aufgestanden war und
umherlief, während Caramon, Sturm und Wolkenstürmer ihre Geschichte
erzählten.
»Der Nachtmeister muß damit rechnen, daß wir bereits hier sind«,
warf Raistlin ein. »Das ist nicht gut. Und jetzt wissen wir, daß
sie Kitiara haben. Das ist eine noch schlimmere Nachricht. Was du
nicht weißt, Caramon, ist, daß die Minotauren sich hier versammelt
haben, um einen mächtigen Zauber zu wirken, der einen ihrer bösen
Götter in unsere Welt einlassen soll. Und für diesen Spruch braucht
man einen Nichtminotauren als Opfer.«
»Wer ist dieser Nachtmeister?« wollte Flint wissen.
Tanis hatte gerade dieselbe Frage auf den Lippen.
»Er ist ihr oberster Schamane«, antwortete Raistlin. »Der
Nachtmeister ist der, der den Spruch sagen würde, um das Portal für
Sargonnas zu öffnen.«
Caramon und Sturm wirkten befremdet. Raistlin erklärte ihnen und
den Kyrie rasch alles, was ihm, Tanis und Flint geschehen war – die
magische Botschaft, die er von Tolpan erhalten hatte, der Besuch
beim Orakel und die Reise durch das Portal nach Ogerstadt, die
Flucht mit Kirsig aus Ogerstadt, ihre ereignisreiche Reise über das
Blutmeer bis zu ihrer Ankunft auf der Insel Karthay.
»Der Grund unseres Kommens«, erläuterte der junge Magier, »ist, daß
ich beim Stöbern in der Bücherei auf einen alten Spruch gestoßen
bin. Der Spruch hat mich nicht mehr losgelassen, und ich hatte
Tolpan bereits losgeschickt, um eine seltene Zutat dafür zu kaufen,
das Jalopwurzpulver. Erst danach wurde mir die volle Tragweite
meines Handelns bewußt. Der Spruch, der gerade vorbereitet wird,
würde den bösen Herrn der Finsteren Rache, Sargonnas, in die Welt
der Materie einlassen. Unterstützt von meinem Zaubermeister habe
ich weiter geforscht und kam zu dem Schluß, daß der Spruch vom
Nachtmeister der minotaurischen Nation auf der Insel Karthay
gesprochen werden müßte.
Kirsig hat uns gesagt, daß die Stiermenschen Bündnisse mit den
Ogern und anderen schändlichen Rassen schließen. Ich fürchte, das
ist Teil ihres Plans, Sargonnas in unsere Welt zu holen und alles
für die Eroberung Ansalons in die Wege zu leiten.«
»Sargonnas«, zischte Wolkenstürmer. »Du hast also schon von ihm
gehört?« fragte Raistlin. »Eine Kyrielegende berichtet von einem
Sargonnas, einem riesigen, roten Kondor, der unser Volk vor vielen
Generationen heimgesucht hat. Er überredete einen unserer
wankelmutigsten Edlen, dem Kondor den heiligsten Gegenstand unserer
Nation, den Nordstein, auszuliefern. Damit konnten die Kyrie einst
zwischen allen Inseln und Landmassen der Welt navigieren, anstatt
in dieser kleinen Ecke im ständigen Krieg mit unseren Feinden, den
Minotauren, festzusitzen«, erklärte Wolkenstürmer. »Wenn Sargonnas
auf seine Wiederkehr hofft, ist das eine sehr schlechte Nachricht
für mein Volk. Wir werden euch mit allem helfen, was in unserer
Macht steht.«
Einen Augenblick schwieg alles, denn die enorme Aufgabe, die vor
ihnen lag, bedrückte die Gruppe. Was machen wir jetzt? Diese Frage
lag jedem auf der Seele.
»Bis zum Morgen können wir überhaupt nichts tun«, beantwortete
Tanis die unausgesprochene Frage. »Versuchen wir also, ein wenig zu
schlafen.«Jetzt bestand die Gruppe aus acht Menschen, dazu einem
Zwerg, einem Halbelfen, einer Halbogerin und sechs Kyrie. Weitere
Kyrie kundschafteten Teile der Insel aus, aber am Morgen hatte erst
einer das Lager erreicht. Das machte sieben Kyrie. Raistlin machte
es Mut, daß die Kyrie die anderen in zwei Schichten an einen Ort
nahe des Lagers des Nachtmeisters in der Ruinenstadt fliegen
konnten. Erst würden die Kyrie Raistlin, Tanis, Caramon, Sturm und
Yuril bringen. Nach kurzer Rast würden sie dann Flint, Kirsig und
die Matrosinnen holen.
Trotz des Zeitaufwands für das zweimalige Hin und Her würde die
Reise viel weniger Zeit beanspruchen als der Marsch über Land. Die
Gefährten würden einen Tag vor der Himmelskonjunktion, die Raistlin
für grundlegend wichtig für den Spruch hielt, am Rand der
Ruinenstadt eintreffen.
Flint, der bereits das Blutmeer hinter sich hatte, hatte es nicht
eilig, von den gefiederten Vogelmenschen durch die Lüfte getragen
zu werden, ganz gleich, wie edel oder freundlich sie sich Caramon
und Sturm gegenüber verhielten. »Mir macht es nichts aus, mit den
ganzen Frauen hierzubleiben«, sagte der Zwerg. »Macht mir gar
nichts aus. Erstmal will ich zusehen, wie ihr alle auf Himmelsfahrt
geht, und wenn ihr nicht hinunterfallt oder abstürzt oder von der
Sonne gebraten werdet, dann komme ich nach, keine Sorge.«
»Ich lasse dich ungern zurück«, sagte Tanis.
»Keine Sorge«, scherzte Flint. »Schließlich paßt Kirsig auf mich
auf.«
Tanis lächelte. »Ja«, gab der Halbelf zu. »Ich glaube, sie kann es
bald mit Lolly Ockenfels aufnehmen.«
»Das ist das letzte Mal, daß ich versuche, ein vernünftiges
Gespräch mit dir zu führen, Tanis Halbelf!« explodierte Flint und
wurde knallrot. »Kein Respekt! Du hast keinen Respekt vor mir!«
Flint zeterte weiter, während Tanis und die anderen abhoben.Die
Kyrie hatten Zeit gehabt, für ihre Passagiere Geschirre aus Leder
und Seilen herzustellen. Die starken Klauen der Vogelmenschen
würden die Geschirre packen und die Menschen so tragen. Das war
nicht die anmutigste Art zu fliegen, wie Tanis fand – an den
Schultern aufgehängt und mit baumelnden Beinen. Aber es mußte
reichen.
Ein Kyrie namens Herz des Sturms trug den Halbelfen. Stundenlang
schlugen seine großen Schwingen stetig weiter, während unter ihnen
das Land vorbeizog. Manchmal konnte Tanis einen Blick auf die
anderen erhaschen, aber zu anderen Zeiten war die Kyrieformation in
den Wolkenbänken nicht zu sehen. Tanis war glücklich über den
Schatten vom Herz des Sturms, denn wieder brannte die Sonne vom
Himmel.
Als sie sich dem Dach der Welt näherten, rückten die Kyrie enger
zusammen und flogen tiefer. Wolkenstürmer, der Caramon trug, schlug
einen weiten Bogen nach Westen und landete auf einem hohen Plateau,
von dem aus man im Osten die Ruinenstadt überblicken konnte,
während im Westen der Vulkan Weltendach schlummerte. Die Kyrie
legten nur eine kurze Pause ein. Sie warteten, bis Tanis und die
anderen ihre Geschirre abgelegt hatten, und brachen dann wieder
auf, um die zu holen, die sie zurückgelassen hatten.
Die alte Stadt, die nur wenige Meilen entfernt lag, sah wie eine
graue, pockennarbige Mondlandschaft aus. Aus dieser Entfernung
konnten die Gefährten keinen Hinweis darauf erkennen, daß dort
jemand lebte – nur geborstene Türme und meilenweit von Lava
überkrustete Ruinen. Weiter im Norden ragte das Dach der Welt auf,
ein dunkler, drohender Wall, das seinen Schatten über die Ruinen
von Karthay warf.
Raistlin brach das ehrfürchtige Schweigen der Gruppe, die den
Anblick betrachtete. »Yuril, du wartest hier mit Sturm auf die
anderen«, entschied der Zauberer. »Caramon, Tanis und ich erkunden
die unmittelbare Umgebung, damit wir sicher sind, daß keine
Minotauren in der Nähe sind. Vielleicht finden wir auch etwas zum
Abendessen.«
Yuril nickte kühl. Während die anderen einen Pfad hinunterliefen,
begann sie, an einem Stein ihr Schwert zu wetzen. Sturm, der immer
noch nicht ganz bei Kräften war, streckte sich neben ihr auf der
Erde aus.
Selbst so weit von der Stadt entfernt lag noch schwarze Asche auf
dem Boden. Eine halbe Meile weiter gabelte sich der Pfad. Raistlin
rieb sich das Kinn, als er dastand und beide Möglichkeiten in
Betracht zog. Beide Wege führten bergab.
»Hier lang«, zeigte Caramon.
»Nein«, sagte Tanis, der auf den anderen Weg zeigte. »Hier
lang.«
»Ich gehe da lang«, sagte Raistlin und wählte den Weg, auf den
Tanis gewiesen hatte, »und ihr zwei probiert den anderen Pfad
aus.«
Sowohl Caramon als auch Tanis waren entgeistert, daß Raistlin
allein gehen wollte, aber keinem von ihnen fiel ein passender
Einwand ein. Der Magier starrte sie kühl an.
»Nun?« fragte er nach.
»Meinst du – meinst du nicht, wir sollten zusammenbleiben?«
stammelte Caramon.
Tanis nickte zustimmend.
»Es wäre besser, beide Richtungen zu überprüfen«, sagte
Raistlin.
»Nur…«, sagte Tanis.
»Nur was?« fragte Raistlin mit finsterem Blick.
»Wir sollten nur übereinkommen«, meinte der Halbelf, »daß wir uns
in zwei Stunden wieder hier treffen.«
» Einverstanden.«
»Ruf uns, wenn du etwas siehst«, fügte Caramon hinzu.
»Natürlich«, sagte Raistlin gereizt.
Mit gemischten Gefühlen sahen Tanis und Caramon, wie Raistlin
allein losging. Dann seufzten sie einträchtig und nahmen den
anderen Weg.
Die beiden hatten Glück. Caramon tötete eine fette Schlange, aus
der man eine Suppe kochen konnte, und Tanis fand ein paar eßbare
Nüsse an einem struppigen Busch, der sich an die Felsen klammerte.
Sie fanden keine Spur von Minotauren oder anderen Feinden. Nachdem
sie den Pfad eine Stunde lang erkundet hatten, kehrten sie um. Über
eine Stunde warteten sie am verabredeten Ort, aber Raistlin tauchte
nicht auf. Besorgt kletterten sie zu dem Platz hoch, wo Sturm und
Yuril warteten, denn sie hofften, der Magier wäre während ihrer
Abwesenheit zurückgekehrt. Aber Raistlin war nicht dort.
Gerade jetzt kamen die restlichen Kyrie mit Flint, Kirsig und den
Matrosinnen. Flint war kreideweiß und fluchte unablässig. Kirsig
behauptete, sie hätte noch nie etwas Aufregenderes erlebt. Die
Matrosinnen nahmen alles gelassen hin. Sie waren erfahrene
Reisende, und wenn das Blutmeer sie nicht umgebracht hatte, nun,
dann würden sie wohl kaum während eines Flugs mit den Kyrie
sterben.
»Habt ihr von oben meinen Bruder Raistlin gesehen?« fragte Caramon
Wolkenstürmer besorgt.
»Nein«, sagte Wolkenstürmer stirnrunzelnd. »Ist er denn nicht hier
bei euch?«
»Nein«, erwiderte Caramon aufgeregt. Wütend trat der Krieger gegen
einen Stein. »Das hätte ich wissen müssen«, murmelte Caramon.
Finster hockte er sich auf einen Felsen.
Flint sah Tanis fragend an. Der Halbelf zuckte mit den Schultern.
»Caramon hat recht«, sagte Tanis mürrisch. »Wir hätten es wissen
müssen.«
Wolkenstürmer ging zu Caramon und setzte sich neben ihn auf den
Boden. »Ist dein Bruder in Sicherheit? Ist er allein losgezogen?
Was glaubst du?«
»Ich glaube«, sagte Caramon kläglich, »daß mein lieber Bruder sich
weggeschlichen hat, um auf eigene Faust etwas gegen diesen
Nachtmeister zu unternehmen. Ich hoffe bloß, er bringt sich dabei
nicht um.«
»Tja«, trieb Flint sie an, »Raistlin hat gesagt, der große Zauber
findet morgen abend statt. Was also wollen wir bis dahin
unternehmen?«
Lastendes Schweigen breitete sich aus.
»Ich hatte die Vorstellung«, sagte Tanis leicht beschämt, »daß
Raistlin sich etwas ausgedacht hatte. Falls er nicht zurückkommt,
müssen wir erraten, was es war – oder uns selbst etwas
ausdenken.«
»Er kommt nicht zurück«, sagte Caramon niedergeschlagen.
»Dann müssen wir entsprechend handeln«, bestimmte Wolkenstürmer.
Der Kyrie teilte seine Krieger ein. Die Hälfte sollte den Himmel
durchstreifen, die Ruinenstadt auskundschaften und nach Möglichkeit
mit den anderen Kyrie Kontakt aufnehmen, die die Insel absuchten.
Diese sollten sich dringend der Hauptgruppe anschließen. Drei Kyrie
sollten zurückbleiben, Wache halten und im Lager helfen.
»Wir müssen bei Einbruch der Nacht zurück sein«, wies Wolkenstürmer
Vogelgeist an, der erster Kundschafter war, »oder spätestens bis
Sonnenaufgang. Wie wir es auch anstellen, wir müssen morgen
angreifen.«
Kirsig, Yuril und die Matrosinnen fingen an, das Lager
aufzuschlagen. Flint, Sturm, Tanis und Caramon sahen, wie die
anderen sich pflichtbewußt an die Arbeit machten. Dann sahen sie
einander betreten an. Die Gefährten versuchten, ihre Angst um
Raistlin zu vergessen, und packten mit an.
Kapitel 6
Der Nachtmeister
Einige Meilen vor der Ostspitze von Karthay, in der See bei Spornheim, versammelten sich Hunderte von Orughi. Ihre grauen, muskelbepackten Schultern ragten aus dem Wasser, während ihre Füße mit den Schwimmhäuten unter der Oberfläche paddelten. Ihre aufwärts gerichteten Gesichter zeigten eine hohe Stirn, eine platte Nase, spitze Ohren, Knopfaugen und strähniges, goldenes Haar, das tropfnaß herabhing. Einige trugen Streitäxte und Dolche, während andere ihren Eisenbumerang mit der langen Metallschnur, die Tonkk, dabeihatten. Die Orughi schauten nach Westen. Weil sie amphibische Lebewesen waren, konnten sie tagelang schwimmen, ohne müde zu werden. Jetzt paddelten die Orughi herum, denn sie warteten auf ein Zeichen von Sargonnas.
Einige Meilen weiter und tiefer in der Straße vom Land Ho wartete unter einer Dunstglocke eine mit Ogern bemannte Kriegsflotte darauf, das Bündnis mit den Minotauren zu besiegeln. Es waren nur Dutzende, nicht Hunderte von Schiffen, aber jedes stand für einen Ogerstamm, jedes wurde von einem Häuptling dieser verhaßten Rasse geführt. Auf ein Zeichen würden sie sich in Bewegung setzen. Jetzt schaukelten die Kriegsschiffe fast friedlich im Wasser und warteten auf ihre Stunde.
Die Oger hielten Abstand von ihren im Wasser lebenden Vettern, den Orughi. Sie verachteten die begriffsstutzigen Orughi und würden sich nicht mit den Wasserogern zusammentun, ehe Sargonnas das forderte.
Im Moment betrachtete Oolong vom Xak-Clan, der zum Flottenkommandanten der Oger ernannt worden war, die ferne Orughihorde durch sein Fernrohr. Oolong Xak seufzte verstimmt, kratzte seinen verlausten Kopf und fuhr mit schmierigen Fingern durch sein langes, plattgedrücktes Haar. Jeder Oger, der etwas auf sich hielt, würde sich schämen, sich in einem Krieg mit den Orughi zu verbünden, aber die Minotauren hatten die Oger schon fast dazu überredet. Mit Versprechungen und Geschenken hatten sie sie geködert. Aber Oolong Xak war nicht der einzige unter ihnen, dessen Zweifel erst durch den letzten Beweis von Sargonnas persönlich ausgeräumt werden würden.
Viele Meilen entfernt, im Palast der Stadt Lacynos auf der Insel Mithas, erwarteten die acht Minotauren des Obersten Kreises und ihr König den großen Zauber mit unterschiedlich großer Begeisterung, Ungeduld und Skepsis.
Der König der Minotauren wünschte sich die Eroberung Ansalons sehnlichst, weil er seine Untertanen mit der Größe und Reichweite seiner Macht beeindrucken wollte. Der König hatte Truppen gestellt und viel Geld für die umsichtigen Pläne des Nachtmeisters gegeben. Der Erfolg würde seiner Weisheit zugeschrieben werden.
Sein einziger, überzeugter Mitstreiter war Atra Cura, der blutrünstige Abgeordnete der minotaurischen Piraten. Für Atra Cura und seine bunte Gefolgschaft war jeder Krieg ein guter Krieg, denn in dem Chaos, das unweigerlich auf den Schiffsrouten des Blutmeers ausbrechen würde, war für sie viel zu holen.
Dutzende von Kriegsgaleeren standen im Hafen von Lacynos bereit, und viele Dutzend weitere wurden in den Buchten und Häfen von Mithas gezimmert. Akz, der Anführer der minotaurischen Marine, hatte seine Sklaven gnadenlos angetrieben, um die Termine einzuhalten. Allerdings war er geteilter Meinung über die großen Pläne des Nachtmeisters und mehr oder weniger unentschieden. Akz war kein besonders religiöser Minotaurus, und er war lange genug Mitglied des Obersten Kreises, um zu wissen, daß Kriegspläne kamen und gingen.
Immerhin hatte bisher noch nie jemand den Versuch gewagt, Sargonnas in die Welt zu rufen. Dazu brauchte man Kühnheit und Ehrgeiz, gab Akz zu. Aber falls der Spruch sein Ziel nicht erreichte – na und? Die Galeeren konnten für andere, zukünftige Unternehmungen genutzt werden. Akz hatte es nicht eilig, seine Schiffe und seine geschulten Leute in einem unübersehbaren, langwierigen Krieg zu opfern, wenn nicht klar war, daß die Götter persönlich ihn guthießen. Deshalb würde Akz keinen Finger krumm machen, solange Sargonnas ihn nicht persönlich dazu aufforderte. Obwohl Inultus, der Befehlshaber über das minotaurische Heer, Akz haßte, stimmten sie in Kriegsfragen stets überein. Auch Inultus würde mit Freuden seine Legionen gut gedrillter Soldaten hergeben… wenn Sargonnas dies verfügte. Andernfalls sah Inultus keinen Grund, einen in der Geschichte einmaligen und höchst geschmacklosen Pakt mit den Ogern und den Orughi einzugehen, um den in den Annalen der Minotauren bedeutendsten Angriff auf den Kontinent Ansalon zu entfesseln.
Zwei weitere Mitglieder des Obersten Kreises waren zweifellos dem König ergeben und stützten seine Politik, obwohl sie persönliche Vorbehalte gegen Bündnisse mit den Ogern und Orughi hatten. Victri, der gewählte Vertreter der ländlichen Minotauren, würde bereitwillig in jedem Krieg kämpfen, den der König befahl, doch bei diesem hatte er Bedenken und hoffte insgeheim, daß der Nachtmeister scheitern würde. Der große Gelehrte und Historiker Juvabit stimmte gleichfalls mit dem König, den er durch verwandtschaftliche Beziehungen seit seiner Jugend kannte. Aber der verstandesbetonte Juvabit mißtraute dem Mystiker, der der Nachtmeister war, und seinem fanatischen Kult. Deshalb wünschte sich auch Juvabit heimlich, daß der Nachtmeister erfolglos bleiben würde.
Groppis, der Schatzmeister, hatte nur die Meinung, daß er wünschte, die ganze Sache hätte bis jetzt nicht so viel gekostet – fast so sehr, wie er wünschte, der vorgesehene Feldzug zur Eroberung Ansalons wäre niedriger angesetzt.
Damit blieben Kharis-O, die einzige Frau, Anführerin der Minotaurennomaden, und Bartill, das Oberhaupt der Gilde der Architekten und Baumeister.
An ihrer Sicht bestand kein Zweifel. Beide waren ausdrücklich gegen das Bündnis, gegen den geplanten Krieg und gegen die größenwahnsinnigen Ideen des Nachtmeisters. Bartill, weil er sich immer um seine eigenen Projekte sorgte, für die er Geld brauchte; Kharis-O, weil sie abgesonderte Clans vertrat und grundsätzlich immer gegen alles war. Sie stimmte regelmäßig gegen die Mehrheit, und grundsätzlich unterlag sie.
Wie Bartill war Kharis-O jedoch bereit, jederzeit in den Krieg zu ziehen. Ein Minotaurus war treu bis zum Tod, und die Ehre gebot, daß beide im Einklang mit allen Entscheidungen des Obersten Kreises handelten.
Die acht Mitglieder des Obersten Kreises waren vom König zusammengerufen worden, um die Ankunft von Sargonnas zu erleben.
Die Acht warteten im größten Saal des Palastes. Einige trommelten mit den Fingern auf den großen Eichentisch. Andere liefen auf und ab und schnaubten vor Ärger, wenn sie mit den Schultern aneinanderstießen. Wieder andere hatten ihre gehörnten Köpfe auf den Eichentisch gelegt und schnarchten durchdringend.
Morgen abend würde es soweit sein.Das Allerheiligste des Nachtmeisters war unglaublich faszinierend, mußte Tolpan Barfuß gestehen.
Das trockene, aufgerissene Land war von brüchigen Mauern übersät. Hier und dort ein paar Säulen – mehr war nicht geblieben von den Tempeln der sagenhaften Stadt, die sich in den Himmel gereckt hatte. Überall lagen Steine herum. Eine oder zwei geborstene Statuen standen im Geröll.
Risse von Erdbeben, die die einstmals bedeutende Stadt erschüttert hatten, durchzogen den Boden im Zickzack und trugen zu dem unheimlichen Eindruck bei. Graue und schwarze Asche, die teilweise zu einer brüchigen Kruste verhärtet war, bedeckte alles.
Der Nachtmeister beobachtete Tolpan, als der Kender einen Teil der toten Stadt durchstreifte und dabei hin und wieder ein ascheüberzogenes Ding aufsammelte und in seinen Rucksack stopfte. Tolpan drehte sich um, bemerkte den Blick des Nachtmeisters und winkte.
»Ist der Kender nicht… interessant?« fragte Fesz, dem kein besseres Wort eingefallen war. Der Schamane stand neben dem Nachtmeister. »Sicher findet auch Ihr, daß es eine gute Idee war, ihn herzubringen. Tolpan hat mir bereitwillig alles über seine ehemaligen Freunde erzählt, und er hat darum gebettelt, mich begleiten zu dürfen.«
»Bist du sicher, daß er böse ist?« knurrte der Nachtmeister, der den Kopf schief legte, um den näherkommenden Kender mit seinen großen Stieraugen zu mustern.
»Er trinkt jeden Tag die doppelte Dosis des
Tranks. Und er hat mir keinen Anlaß gegeben, an ihm zu
zweifeln.«
»Was ist das für ein komischer Holzstab über seinem
Rücken?«
»Das heißt Hupak, Herr«, erwiderte Fesz. »Der Kender sagt, es ist
eine unschlagbare Waffe.« Der Minotaurenschamane brachte ein
schiefes Lächeln zustande. »Es dürfte nichts schaden, seine
Kindereien zu dulden.«
Der Nachtmeister warf seinem Jünger einen Seitenblick zu. Fesz
würde ihm einmal nachfolgen. In mancher Hinsicht war er der
gerissenste und vertrauenswürdigste Schüler des Nachtmeisters, aber
in anderer Hinsicht war Fesz, wie der Nachtmeister wußte, der
Argloseste, Vertrauensseligste aller Minotauren.
»Was ist mit dem Menschen, Sturm?«
»Ein Zwischenfall, der allen Minotauren zur Schande gereicht«,
stimmte Fesz zu, »aber nicht Tolpan anzulasten. Sturm hatte den
Zweikampf schon fast verloren, und Tolpan hat so laut gebrüllt wie
wir alle. Kein Minotaurus war wütender über die Rettung als Tolpan.
Er bestand darauf, daß zahlreiche Wachen zum Tode verurteilt werden
müßten, weil sie es zugelassen hatten, daß der Solamnier entkam! Er
hat sogar darum gebeten, einen persönlich hinrichten zu dürfen. Das
konnten wir wegen der Staatsgesetze natürlich nicht erlauben, aber
Tatsache ist, daß er gefragt hat.«
Der Nachtmeister schien diese Mitteilung zu verarbeiten. Dann
drehte er sich achselzuckend zu seinem Zimmer ohne Wände um, das
einst der Eingang zur großen Bibliothek gewesen war. Während er
sich mit tierhafter Geschmeidigkeit bewegte, raschelten die Federn
im Wind, und die Glöckchen um seine ausladenden Schultern und
Hörner bimmelten.
»Hallihallo, Nachtmeister!« zirpte Tolpan ihm nach.
Der Nachtmeister drehte sich nicht um, um den Gruß des Kenders zu
erwidern. Der Oberschamane setzte sich schwerfällig an seinen
langen Tisch, während die anderen beiden Angehörigen der Hohen Drei
ihm hurtig Zauberbücher und Zutaten brachten. Diese baute er vor
sich auf, prüfte und verglich sie und schrieb dabei mit einer Feder
etwas auf.
»Etwas unnahbar, hm?« meinte Tolpan.
»Es ist bald soweit«, grollte Fesz vielsagend. »Der Nachtmeister
muß seine gesamte Aufmerksamkeit auf die bevorstehende Aufgabe
richten. Ich muß zu ihm, Tolpan, und ihm bei seinen Vorbereitungen
helfen.«
Fesz drehte sich um und ging zu dem langen Tisch, wo er sich zu den
anderen zwei hohen Akolythen des Nachtmeisters begab. Als der
Nachtmeister sich über seine Berechnungen beugte, standen die Hohen
Drei hinter ihm. Sie achteten darauf, ihn nicht zu unterbrechen,
ihm jedoch sofort jeden Wunsch zu erfüllen, wenn er eine Anweisung
brummte.
Tolpan zuckte mit den Achseln und hüpfte zu dem Holzverschlag, in
dem Kitiara gefangen saß. Sie sah ein wenig abgemagert und
ungebadet aus, dachte er bei sich. Er bemerkte, daß Dogz, der in
der Nähe auf einer Decke lag, ihn genau beobachtete.
»Also, Kit«, sagte Tolpan gutgelaunt, »wie bist du denn so schnell
nach Karthay gekommen? Ich bin beeindruckt. Ich wette, es war etwas
Magisches, hm?«
Kitiara sah ihn mit steinernem Blick an.
»Gut, dann verrate mir eines: Wie kommt es, daß sie dich so leicht
erwischt haben? Ich dachte, Caramon wäre der einzige blöde
Majere.«
Sie funkelte ihn an und stieß jedes Wort einzeln heraus: »Wie oft
muß ich dir das eigentlich noch sagen? Ich bin keine
Majere!«
Tolpan zuckte mit den Achseln. »Na gut, dann eben eine halbe
Majere. Wahrscheinlich die Hälfte, die gefangen wurde.« Er kicherte
über seinen eigenen Witz.
»Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest, hier wimmelt es nur
so von Minotauren. Woher sollte ich das wissen?«
Tolpan schnitt ihr das Wort ab. »He, ich hab’ gehört, daß du
geopfert werden sollst, wenn es soweit ist – morgen abend, hat Fesz
gesagt. Wenn ich Raistlin also noch irgend etwas von dir ausrichten
soll, falls ich ihn je wiedersehe, dann kannst du es mir jetzt
sagen.«
Mit aller verbliebenen Kraft warf sich Kit vergeblich gegen das
Käfiggitter. Die Latten erzitterten, und der Kender wich auf eine
sichere Entfernung zurück. Kit drückte ihr Gesicht an die Latten
und fauchte Tolpan an.
»Ich weiß nicht, was du Böses im Schilde führst, Tolpan«, zischte
Kit, »aber wenn ich je wieder hier rauskomme, dann lege ich meine
Hände um deinen kleinen Verräterhals und bring’ dich um!«
»Ach, tut mir leid, daß du so denkst«, sagte Tolpan in verletztem
Ton, »weil wir doch so gute, alte Freunde sind. Außerdem«, fügte er
frech hinzu, »frage ich mich, ob du nicht ein kleines bißchen
eifersüchtig bist. Gib’s zu, du hättest nichts dagegen, selbst mal
ein Weilchen böse zu sein…«
Kit durchbohrte ihn mit ihren Blicken.
Tolpan trat grinsend zu Dogz zurück. Der Kender drehte sich um und
sah den Minotaurus an, der ihn bedauernd ansah.
»Und was ist mit dir los?« fragte Tolpan, der sich neben dem
Minotaurus, der ihn bewachen sollte, auf den Boden
hockte.
»Nichts, Freund Tolpan«, sagte Dogz, der etwas trockene Asche durch
seine Finger rieseln ließ. Er mied Tolpans Blick.
»Nichts, Freund Tolpan«, ahmte Tolpan ihn mit singender Stimme
nach. Er sah sich um. Seiner Schätzung nach umstand etwa ein
Dutzend Minotauren das Lager des Nachtmeisters. Sie trugen alle
möglichen Waffen – Doppeläxte, beschlagene Keulen, Wurfspeere und
Geißeln. Dutzende weitere durchstreiften weiter draußen das
Gelände.
Im Gegensatz dazu war keiner der Hohen Drei bewaffnet, auch der
Nachtmeister nicht. Nur Dogz trug Breitschwert, Katar und
Kettenflegel.
Dogz senkte seine Stimme zu einem leisen Knurren. »Manchmal wundere
ich mich über dich, Freund Tolpan«, sagte der Minotaurus.
»Was wunderst du dich?«
»Ob du wirklich mit all diesen Leuten befreundet bist – erst Sturm.
Und jetzt diese Frau, Kitiara. So wie du sie behandelst.«
Tolpan klopfte Dogz auf die Schulter. »Tja, ich bin doch jetzt ein
böser Kender, oder?« erinnerte er Dogz. »Ich gebe mir bloß größte
Mühe, mich entsprechend zu verhalten. Klar, sie waren mal meine
Freunde. Aber damals war ich gut – na ja, ziemlich gut – jedenfalls
meistens. Jetzt bin ich böse. Und wenn ich sie verrate, mache ich
es als Böser doch ganz richtig. Du solltest stolz auf mich
sein.«
»Ja«, sagte Dogz zögernd.
»Ich sehe das so«, führte Tolpan aus, der sich auf dem Rücken auf
die aschebedeckte Erde legte und die Hände hinter dem Kopf
verschränkte. »Inzwischen bin ich so eine Art Ehrenmitglied der
Minotauren. Hast du mir nicht erzählt, daß die Macht das Recht
bestimmt und daß die Minotaurenrasse eines Tages die Welt erobern
will und so?«
»Ja«, erwiderte Dogz wieder.
»Nun, ich beweise nur meine Treue gegenüber dem minotaurischen
Volk. Wenn du die Wahl hast, dein Volk zu verraten oder deine
Freunde – hups, ich meine, deine ehemaligen Freunde –, was würdest
du tun?«
Der Minotaurus senkte seine riesigen Hörner. Als er wieder aufsah,
waren seine Augen groß und traurig. Sein fauliger Atem überwältigte
Tolpan regelrecht. »Ich weiß nicht. Wahrscheinlich meine Freunde
verraten«, fügte er langsam, offensichtlich verwirrt
hinzu.
»Freust du dich nicht auf den Zeitpunkt, wo Sargonnas die Welt
betritt?«
Dogz sah nach drüben, wo der Nachtmeister saß und seine
Zauberbücher las. Hinter ihm standen die Hohen Drei.
»Doch«, sagte Dogz.
»Na, siehst du? Ich auch«, sagte Tolpan triumphierend. Er klopfte
Dogz auf die Schulter. »Mach dir nicht so viele Gedanken, Dogz«,
fügte der Kender hinzu. »Davon kriegst du Runzeln auf der
Schnauze.« Tolpan gähnte übertrieben. »Jetzt werde ich etwas
ausruhen. Das brauche ich dringend.«
Der Kender schloß die Augen. Einen Moment später machte er eins
wieder auf, um Dogz’ Reaktion zu beobachten.
Dogz hatte sich aufgesetzt und putzte mit sinnendem Blick seine
Waffen. Wie Tolpan zogen die Minotauren gewöhnlich klare Grenzen
zwischen Freunden und Feinden – den Kendern zum Beispiel. Dogz
hatte Kender immer gehaßt, obwohl er noch nie einen gesehen hatte.
Als er Tolpan auf der Venora zum ersten Mal
erblickt hatte, hatte er ihn nicht einmal berühren wollen. Tolpan
war für ihn schlimmer als ein Feind gewesen, eines der niedersten
Wesen der Schöpfung.
Aber nachdem er Tolpan gefangengenommen und eine Menge Zeit mit ihm
verbracht hatte, hatte Dogz den eigenartigen kleinen Wicht immer
lieber gemocht. Er hatte seine Tapferkeit unter der Folter und
seinen Sinn für Humor in lebensgefährlichen Situationen bewundert.
Durch die Gespräche mit Tolpan hatte er viel über Solace und die
Freunde des Kenders erfahren – besonders den knurrigen Zwerg Flint
Feuerschmied und Tolpans Onkel Fallenspringer –, und er hatte sie
allmählich auch als seine Freunde angesehen.
Dogz hatte reichlich Verwandte, aber er hatte wenig Freunde.
Freundschaft war für ihn etwas ganz Neues, und das hatte Tolpan ihn
gelehrt.
Dann hatte Fesz Tolpan böse gemacht, und der Kender hatte sich
verändert. Er wurde fordernd. Es machte weniger Spaß, bei ihm zu
sein. Vielleicht würde der böse Tolpan dabei helfen, Sargonnas in
die Welt zu bringen, aber Dogz war sich nicht sicher, ob ihm der
alte Kender nicht besser gefallen hatte.
Dogz seufzte. Er beugte sich vor, um etwas Schmutz von seinem Katar
zu kratzen, einer langen Klinge an einem Hförmigen Griff. Er ölte
und polierte seinen ungewöhnlichen Dolch, während er lange
angestrengt über das Thema Freundschaft nachdachte.
Zwanzig Schritt weiter lief Kitiara in ihrem Holzkäfig rastlos auf
und ab. Ihren wachsamen Augen entging nichts. Sie spitzte die
Ohren, um Fetzen der Unterhaltungen um sie herum aufzufangen, wenn
Worte zu ihr herüberdrangen. Kit war nicht gerade begeistert von
Kendern, aber ihr hatte Tolpan, so wie er früher gewesen war,
jedenfalls besser gefallen.
Der Nachtmeister hatte Sturm erwähnt, also war der Solamnier
anscheinend noch am Leben. Und kürzlich hatte Kit ihn auch von
Caramon und Raistlin reden hören. Sie waren unzweifelhaft alle
irgendwo in der Nähe, und der Nachtmeister befürchtete, sie könnten
sich einmischen.
Dieser Gedanke zauberte ein schiefes Lächeln auf Kitiaras
Gesicht.
Die Sonne stand am Zenit. Das Land wurde unter ihrer Hitze
gebacken, und die Erde brach auf. Den dickhäutigen Minotauren
schien das Klima wenig auszumachen. Dogz säuberte und ölte
sorgfältig seine Waffen. Die Minotaurenwachen am Rand des Lagers
liefen auf ihren festgelegten Runden regelmäßig durch Kitiaras
Blickfeld.
Der Nachtmeister saß an seinem langen Tisch, wo er die
Ingredienzien für den gewaltigen Zauberspruch morgen abend
überprüfte.
Einer der wenigen Vorteile von Kits engem Käfig war, daß die
Holzlatten über ihrem Kopf das schlimmste Sonnenlicht abhielten.
Ihr Blick glitt zu dem verräterischen Kender. Er hatte die Augen
geschlossen. Tolpan Barfuß schien friedlich zu schlafen.Während der
Nachtmeister über seinem Spruch saß, dachte er den Augenblick
seines Triumphs vor fünf Tagen zurück – einen Tag, bevor sie die
Menschenfrau gefangen hatten –, als der Zeitpunkt für den Spruch
bestätigt wurde und Sargonnas sich dem Minotaurus gezeigt
hatte.
Er war zur Mittagszeit oben auf dem Bergplateau zwischen den
farbigen Glasprismen, den Kristallen und den silbernen
Spiegelscherben gewesen. Aus ihnen las er die Bewegung von Sonne
und Sternen und berechnete ihre Stellung am Himmel in Beziehung zu
den Monden. Er war zu dem Schluß gekommen, daß alle äußeren
Bedingungen stimmten.
Plötzlich sah er eine Welle in einer der spiegelnden Oberflächen.
Als er sich umschaute, sah er in den glänzenden, geschliffenen
Glasstücken Flackern und Wellenbewegungen. Unter dem staunenden
Blick des Nachtmeisters nahm das Flackern und Wabern Gestalt an,
bis jedes Glasstück ein Stück des Gesichts von Sargonnas
zeigte.
Ein schreckliches, furchteinflößendes, bedrohliches Gesicht hinter
einem roten Nebel starrte den Nachtmeister aus schwarzglühenden
Augen an.
Dann war das Angesicht von Sargonnas in den Glasstücken plötzlich
verschwunden.
Sein Blick wurde zum Himmel gezogen, wo der Nachtmeister einen
großen roten Kondor mit schwarzen Federn wahrnahm. Seine
ausgebreiteten Flügel schienen den Himmel zu verdecken. Der Kopf
war seltsam klein und nackt. Feuer umflackerte seine
Flügelspitzen.
Sei gegrüßt, Nachtmeister, Diener des
Bösen.
Der rote Kondor schien mit seidenweicher, schmeichelnder Stimme im
Kopf des Nachtmeisters zu sprechen. Flammenzungen schossen aus
seinem Schnabel.
Sei gegrüßt, Sargonnas, Gott der Finsteren
Rache, Genosse der Takhisis.
Der Nachtmeister hatte sich noch nie so mächtig – oder so armselig
– gefühlt wie damals, als Sargonnas zum ersten Mal zu ihm
sprach.
Dein Plan ist mir bekannt. Seit Jahrhunderten
warte ich auf einen mit deiner Kühnheit, deinem Mut. Seit
Jahrhunderten brenne ich darauf, die Welt der Materie zu betreten
und meine Kräfte zu entfesseln. Seit Jahrhunderten werde ich
enttäuscht. Hast du jede Vorkehrung für den Spruch getroffen? Bist
du zur rechten Zeit bereit?
Ja, Herr.
Bist du auf der Hut vor Täuschungen? Verrat?
Ja, Herr.
Bist du würdig?
Ich glaube schon, Herr.
Enttäusche mich nicht. Wage es nicht, mich zu enttäuschen, oder du
erfährst, daß meine Rache dich überall erreicht.
Damit war der rote Kondor schimmernd mit der Sonne verschmolzen und
hatte sich aufgelöst, als wäre er nie gewesen.
Der Nachtmeister war auf die Knie gesunken und hatte benommen den
Kopf abgewendet. Das Gespräch mit Sargonnas hatte nur in seinem
Bewußtsein stattgefunden. Als er sich umsah, merkte er, daß die
Minotaurenwachen immer noch ungerührt an ihren Plätzen standen. Sie
hatten Sargonnas weder gehört noch gesehen.
Dasselbe galt für die zwei Mitglieder der Hohen Drei, die nichts
Ungewöhnliches bemerkt hatten – bis jetzt.
Einer von ihnen war zum Nachtmeister hochgelaufen gekommen. »Geht
es Euch gut, Exzellenz?« hatte der junge, starke Stiermann besorgt
gefragt.
Der Nachtmeister hatte nicht sofort geantwortet. Der junge Schamane
hatte sich bemüht, dem Nachtmeister beim Aufstehen zu
helfen.
»Geht es Euch gut, Exzellenz?«
Diesmal gehörte die Stimme Fesz. Der Schamane trat hinter dem
Nachtmeister vor und tippte ihm auf die Schulter.
Als der Nachtmeister abrupt in die Gegenwart zurückkam, sah er sich
einem Offizier der minotaurischen Truppen gegenüber. Der Offizier
stand vor dem Nachtmeister, der gedankenverloren an seinem großen
Tisch mitten in der toten Stadt gesessen hatte. Der Nachtmeister
zwinkerte, betrachtete den gehörnten Soldaten vor sich und knurrte
Fesz an: »Ja, natürlich geht es mir gut.«
»Ich bringe Neuigkeiten«, sagte der minotaurische Soldat. »Der
Gruppe, die an der Südküste der Insel gelandet ist, hat sich ein
Schwarm Kyrie angeschlossen.«
»Kyrie«, grunzte der Nachtmeister. »Wie viele?«
»Mindestens sechs, vielleicht sogar fünfzehn«, erwiderte der Soldat
und fügte gleich hinzu: »Wahrscheinlich alle Angehörigen der
Kriegergemeinschaft. Aber damit werden wir leicht fertig. Wir
würden mit zehnmal so vielen fertigwerden.«
»Ja.«
Der Minotaurensoldat zögerte.
»Ja?«
»Sie laufen in diese Richtung. Sie scheinen genau zu wissen, wo sie
hinwollen.«
»Warum laufen sie? Warum fliegen die Kyrie sie nicht
hierher?«
»Das wundert uns auch, Exzellenz«, erwiderte der Soldat.
»Vielleicht sind sie so viele, daß die Kyrie nicht alle tragen
können, oder die Kyrie mußten sich nach ihrem Anflug von den Bergen
von Mithas ausruhen.«
»Pah!« schnaubte der Nachtmeister so heftig, daß der
Minotaurensoldat einen Schritt zurückwich. »Die Kyrie ermüden nicht
so leicht. Es muß einen anderen Grund geben, den wir bald erfahren
werden.«
Der Minotaurensoldat schien weniger gleichmütig zu sein. »Ja«,
erwiderte der zurechtgewiesene Soldat. »Wir schätzen, daß sie
morgen mittag hier sind.«
Zur Überraschung des Soldaten schien der Nachtmeister sich an
dieser Nachricht nicht im mindesten zu stören. Im Gegenteil, er
wirkte erfrischt und machte sich wieder an die Arbeit. Eifrig
schrieb er an die Ränder des Buches, das er gelesen
hatte.
Der Nachtmeister schaute auf. Diesmal wirkte er doch irritiert.
»Ja? Ist noch etwas?«
»N-nein, Exzellenz«, stammelte der Soldat, der sich umdrehte, um zu
verschwinden.
Gut, sagte der Nachtmeister zu sich. Die Menschen, die angeblich
von einem Zwerg und einem Elfen begleitet wurden, waren unterwegs,
und die Kyrie hatten sich ihnen angeschlossen. Das kam allerdings
unerwartet. Er würde seinen Plan etwas ändern müssen, aber dafür
war noch genug Zeit.
Hinter ihm nickten Fesz und die anderen Mitglieder der Hohen Drei
einander zu. Sie vertrauten der Weisheit des
Nachtmeisters.
Hinter ihnen schlief Tolpan… mit einem offenen Auge.
Hinter ihm hockte Kitiara lauschend in ihrem Käfig.
Der Tag wurde zur Nacht.
Tolpan schreckte aus dem Schlaf. Er stellte fest, daß er eingedöst
war. Es waren Stunden vergangen.
Das Heiligtum des Nachtmeisters brodelte vor Unruhe. Fesz und die
anderen beiden Minotaurenschamanen waren dabei, Gegenstände in
kleinen Kisten und Rucksäcken zu verstauen. Ein paar
Minotaurenwachen waren näher gekommen und schienen Befehle zu
erwarten. Der Nachtmeister, auf dessen langem Tisch keine
Zauberbücher und Zutaten mehr lagen, stand in der Mitte des Lagers
und erteilte Anweisungen.
Er trug seine volle Zeremonialkleidung. Büschelweise strömten
Federn und Glöckchen von seinem gehörnten Kopf, und um die bulligen
Schultern hatte er einen dunkelroten Umhang geworfen.
»He, was ist denn los?« fragte Tolpan gutgelaunt, als er zu Dogz
schlenderte, der eilig seine eigenen Sachen einpackte.
Dogz drehte sich zu dem Kender um. »Der Nachtmeister sagt, es ist
bald soweit«, meinte er feierlich. »Wir ziehen über Nacht in ein
neues Lager um, damit uns die Menschen und Kyrie nicht finden, die
auf dem Marsch hierher sind.«
Tolpan dachte über diese Nachricht nach. »Gute Idee«, sagte der
Kender begeistert.
Als Fesz Tolpan sah, eilte er herbei. Die Augen des Schamanen
glitzerten vor Aufregung. »Der Nachtmeister hat erlaubt, daß du
mitkommen darfst«, sagte Fesz. »Du weißt gar nicht, was für ein
seltenes Privileg das für einen deiner Rasse darstellt. Eigentlich
sind die einzigen Anwesenden bei diesem Spruch der Nachtmeister,
die Hohen Drei und das Opfer. Aber er meint, daß ein Kender als
Vertreter einer Rasse, die für ihr Glück bekannt ist – besonders
ein böser –, Sargonnas nur gefallen kann.«
Tolpans Blick schoß zu Kitiara. Die Kriegerin stand stocksteif mit
großen Augen in ihrem Käfig. Ein Ohr hatte sie zum Lauschen an die
Holzlatten gelegt.
»Ich bin geehrt«, sagte Tolpan, der sich vor Stolz aufblies. »Mehr
als geehrt, ehrlich. Ich bin einfach platt. Ganz gleich, welche
kleine Rolle man mir bei dem großen Schauspiel zugedacht hat, ich
bin wirklich dankbar. Eigentlich sollte ich dem Nachtmeister
persönlich meinen herzlichsten Dank aussprechen.«
Der Kender war bereits unterwegs zum Nachtmeister, doch Fesz packte
ihn am Kragen und hielt ihn zurück. »Ich glaube nicht, daß es dem
Nachtmeister jetzt passen würde, wo er doch so viele andere,
wichtige Dinge im Kopf hat«, meinte Fesz mit gesenkter
Stimme.
»Oh«, sagte Tolpan. »Das mag sein.«
Der Kender sah zu, wie zwei Wachen zu dem Holzverschlag gingen. Sie
zogen die um sich tretende, schreiende Kitiara Uth Matar heraus und
legten ihr dann Beinketten an. Die Arme banden sie ihr mit einem
Strick auf dem Rücken fest.
»Falls ihr glaubt, ich lasse mich irgendeinem blöden Gott der
Finsternis opfern – oder daß ich gar zulasse, daß ein verdammter
Kender mitkommt und sich darüber amüsiert – dann werdet ihr ein
böses Erw-«
Die Minotaurenwachen stopften Kitiara mitten im Satz einen Knebel
in den Mund. Tolpan bedauerte das, denn er war neugierig, wie um
alles in der Welt Kit auf die Idee kam, daß sie irgend jemand außer
Sargonnas böse erwachen lassen könnte.
Der Nachtmeister hatte Kitiaras Ausbruch gehört. Sein Rücken
spannte sich. Jetzt fuhr er wütend herum und stapfte auf die
Kriegerin aus Solace zu.
Zornig spuckte er Kitiara ins Gesicht. Er hatte seine übliche
Beherrschung verloren. »Du Tropfen Schleim! Du bist es nicht wert,
den Namen des Herrn der Finsteren Rache zu erwähnen! Du bist es
nicht wert, in derselben Welt wie er zu leben! Bald wirst du
sterben, und im Sterben wirst du mit Sargonnas den Platz tauschen.
Du wirst in seine Welt verbannt, während er durch das Portal in
unsere Ebene eindringt!«
Fesz, Dogz und die anderen starrten ihn an. Die Inbrunst des
Nachtmeisters erschreckte sie. Zögernd legten die Minotaurenwachen
Kitiara eine Augenbinde an. Die Kriegerin zappelte
vergeblich.
Tolpan wollte gerade etwas Unpassendes sagen, als eine neue,
unerwartete Stimme aus der Finsternis erklang.
»Ich denke, der Spruch würde besser wirken, wenn euer Opfer weniger
unwillig zu Sargonnas’ Vergnügen sterben würde!«
Raistlin! Das war Raistlins Stimme! Tolpan würde sie überall
erkennen, selbst hier an diesem abgelegenen Ort. Kit hörte auf,
sich zu wehren. Also erkannte auch sie die Stimme ihres
Halbbruders.
Aber wo war er? Raistlin war nirgends zu sehen.
Die Wachen umklammerten nervös ihre Waffen. Dogz zog sein
Breitschwert. Besorgt warf er Blicke nach allen Seiten. Die Hohen
Drei stellten sich zusammen, um notfalls einen Zauberspruch zu
sagen.
Beim Klang der Stimme war der Nachtmeister herumgefahren, sah aber
nichts. Tolpan konnte die riesigen Kuhaugen des Oberschamanen
sehen, und zu seiner Überraschung erkannte er darin weder Furcht
noch Unsicherheit, sondern eine gewisse Erleichterung. Es war, als
hätte der Nachtmeister dies erwartet.
»Bist du es?« grollte der Nachtmeister. »Bist du der, den sie
Raistlin nennen? Der Halbbruder dieser widerspenstigen
Frau?«
»Ich bin Raistlin.«
Tolpan sah sich nach allen Seiten um, konnte sich aber beim besten
Willen nicht vorstellen, wo Raistlin sich verbarg.
»Dann zeige dich.«
Es folgte ein leises, trockenes Lachen, danach wieder die scheinbar
körperlose Stimme. »Lieber nicht.«
Der Nachtmeister schwieg. Tolpan wollte gerade etwas sagen, als der
Nachtmeister seidenweich, fast schnurrend brummte: »Ich verstehe.«
Er machte eine umfassende Geste. »Du hast dich unsichtbar gemacht,
um den Ring meiner Soldaten zu durchdringen. Bravo! Ich hatte mich
schon gefragt, wie du das anstellen willst. Sind deine Gefährten so
weit zurück?«
Raistlin zögerte einen Augenblick. »Ich komme allein.«
»Gut.«
»Laß meine Schwester gehen. Ich werde ihren Platz
einnehmen.«
Tolpan hörte einen erstickten Schrei und drehte sich zu Kitiara um,
die sich aus dem Griff der Wachen loszureißen versuchte. Die
Minotauren schienen sich angesichts dieser Stimme, die offenbar zu
keinem Körper gehörte, unwohl zu fühlen.
»Phantastische Idee!« rief Tolpan. »Hallo, Raistlin. Ich bin’s,
Tolpan! Hast du die magische Flaschenpost bekommen?«
»Ja«, sagte der Nachtmeister, der Tolpan über die Schulter
stirnrunzelnd ansah. »Das ist eine phantastische Idee. Aber woher
weiß ich, daß du dein Wort hältst?«
»Woher weiß ich, daß du deines hältst?«
Der Nachtmeister überlegte. Fesz kam herbei und flüsterte ihm etwas
zu. »Ah«, sagte der Nachtmeister. »Gestatte, daß ich dir Fesz,
meinen ältesten Jünger, vorstelle, den höchsten Schamanen nach mir.
Geh zu ihm, damit er dir die Hände bindet. Wenn du das getan hast«,
er winkte dem Minotaurus von Lacynos, »wird Dogz Kitiara an den
Rand des Lagers bringen und sie freilassen. Du hast mein
Wort.«
Dogz ergriff die Seile, die Kitiara festhielten. Die zwei Wachen,
die glücklich wirkten, daß sie von ihrer Aufgabe erlöst wurden,
traten beiseite.
»Einverstanden«, war Raistlins Stimme zu hören, und bei diesen
Worten wurde Raistlins schlanke Gestalt neben Fesz sichtbar. Der
Schamane griff grob nach ihm und schlang ein Seil um seine Hände,
die er hinter seinem Rücken zusammenschnürte.
Der junge Magier, der von der Anstrengung des langen
Unsichtbarkeitszaubers geschwächt war, mit dessen Hilfe er an den
Minotaurenwachen vorbeigekommen war, die die zerstörte Stadt
bewachten, fiel auf die Knie.
Tolpan hüpfte zu ihm hin.
Der Nachtmeister nickte Dogz zu, der Kitiara hochhob, sie über
seine Schultern legte und über den freien Platz ging. Bald waren
die beiden in der Dunkelheit verschwunden.
»Raistlin!« schrie Tolpan. »Ich wußte, du würdest kommen –
jedenfalls wenn du die magische Flaschenpost bekommen hast. Du hast
sie erhalten, nicht wahr?«
Eine Hand packte Tolpans Schulter und stieß den Kender unsanft
beiseite. Der Nachtmeister trat an seine Stelle, beugte sich zu dem
jungen Zauberer herunter und blies Raistlin seinen ranzigen Atem
ins Gesicht.
»Das ist also der mächtige Raistlin«, knurrte der
Nachtmeister.
»Dieser Mensch ist nichts neben Euch, Nachtmeister«, sagte Fesz
verächtlich. »Er kämpft nicht einmal um sein Leben!«
»Er bleibt gefesselt!« befahl der Nachtmeister. »Wenn er etwas
essen oder trinken will, bekommt er es. Aber unterschätzt ihn
nicht. Bewacht ihn sorgfältig. Und jetzt laßt uns schnell
aufbrechen! Ich will kein Risiko eingehen, und vielleicht hat er
nicht die Wahrheit gesagt, als er behauptet hat, er wäre allein
gekommen!«
Die Minotauren gehorchten eilig.
Tolpan stand langsam vom Boden auf. Er wußte, jede Silbe des
Nachtmeisters war nahezu heilig, aber der böse Tolpan fand, daß der
mächtige Schamane dennoch ein paar Manieren zu lernen hatte.
Während er geknickt seine Schulter massierte, dachte der Kender an
seinen guten, alten Hupak…Dogz war noch nicht sehr weit, als einer
der Minotaurensoldaten ihm hinterhergerannt kam.
Sie waren in einem anderen Teil der zerstörten Stadt, an den Ruinen
eines Säulengangs, den Überresten einer Mauer und eingestürzten
Balken.
»Vom Nachtmeister«, sagte der Soldat, der Dogz eine Nachricht auf
Pergament reichte.
Töte die Menschenfrau, lautete die
Botschaft. Es war die unverkennbare Schrift des
Nachtmeisters.
Dogz zögerte. Das Menschenbündel über seinen Schultern versuchte zu
schreien und zu treten, jedoch ohne Erfolg. Der riesige Minotaurus
legte Kit auf den Boden und stellte einen seiner gespaltenen Hufe
auf sie, damit sie sich nicht zur Seite rollte.
»Ich muß mit der Gefangenen reden«, sagte Dogz. »Warte auf
mich.«
Der Soldat wich in die Schatten zurück.
Dogz schaute sich um. In der Nähe stand eine geborstene Säule. Er
schleppte Kitiara hin, nahm ein Stück Seil vom Arm und wickelte es
fest um sie und die alte Säule. Dann nahm er ihr die Augenbinde
ab.
Ihre Augen sahen ihn fragend an.
»Ich habe den Befehl, dich zu töten«, knurrte der Minotaurus
einfach.
Kits dunkle Augen starrten ihn trotzig an.
Der Minotaurus sah sich um, bis er einen großen Steinblock sah.
Dann ging er langsam hinüber und setzte sich. Der Auftrag, die
Menschenfrau zu töten, verstörte ihn – zunächst einmal, weil diese
Menschenfrau ein Freund des Kenders Tolpan gewesen war, bevor der
Kender böse geworden war, und dann, weil der Nachtmeister sein Wort
gegeben hatte, daß man die Menschenfrau freilassen würde.
Beide Gründe machten Dogz gleichermaßen zu schaffen, und der
Minotaurus grübelte lange vor sich hin. Schließlich stand er auf
und näherte sich der Menschenfrau. »Ich werde dich heute abend
nicht töten«, sagte er einfach.
Er wollte ihr wieder die Augenbinde anlegen. »Ich bringe dich nicht
zurück zum Nachtmeister«, erklärte er. »Ich lasse dich hier, bis
wir zurück sind. Dann werde ich entscheiden, was zu tun
ist.«
Kitiara kämpfte wütend mit ihren Fesseln, weil sie etwas sagen
wollte.
Dogz hielt nachdenklich inne. »Wenn du zu schreien versuchst,
schlage ich dir den Schädel ein«, sagte er. Dann entfernte er den
Knebel.
»Es – es – es geht nicht um mich«, stammelte Kitiara halb
erstickt.
Der Minotaurus wartete.
»Es geht um Raistlin«, sagte sie. »Er ist mein Bruder. Kannst du
ihm irgendwie helfen?«
Der Minotaurus wollte den Knebel wieder anlegen. »Warte!« rief sie
leise.
Es folgte eine Pause, während der der Minotaurus sie verächtlich
anblickte. »Raistlin soll das Opfer sein«, sagte Dogz. »Es ist eine
Ehre für Raistlin, Sargonnas, den Gott der Minotauren, in diese
Welt einzulassen.« Wieder wollte der Minotaurus sie
knebeln.
»Dann vergiß Raistlin«, sagte Kit verzweifelt.
Dogz hielt inne.
Kits Gedanken überschlugen sich. Sie erinnerte sich an die
Unterhaltung von Dogz und Tolpan über Freundschaft und Verrat, die
sie mitangehört hatte. Das brachte sie auf eine Idee. Vielleicht
war es Raistlins einzige Chance.
»Du… du bist Tolpans Freund, nicht wahr?«
»Ja«, sagte Dogz mißtrauisch.
»Dann gib ihm etwas von mir.«
Sie sagte ihm, was es war. Er riß die Augen auf.
Dogz wich vor Kit zurück, drehte sich um und trat gegen den kalten,
aschebedeckten Boden. Minutenlang stand er so da, während Kit ihn
beobachtete. Sie wußte, sie hatte ins Schwarze getroffen. So
merkwürdig es schien, aber der Minotaurus betrachtete sich als
Tolpans Freund.
Langsam ließ Dogz den Knebel sinken. Kitiara verriet ihm, wo das
Ding war. Er suchte ihren Körper ab und fand es. Es war sehr klein.
Niemand hatte es bemerkt, als sie durchsucht worden war. Und
niemand würde es auffallen, wenn Dogz es mitbrachte. Dogz steckte
den kleinen Gegenstand in seinen Gürtel. Dann hob er schroff den
Knebel und befestigte ihn straff vor Kitiaras Mund.
Er starrte sie an, bis er die Augenbinde wieder angelegt
hatte.
Er suchte den Minotaurensoldaten und befahl ihm, hierzubleiben und
Kitiara um jeden Preis zu bewachen.
Dann rannte Dogz los, um den Nachtmeister und seinen Troß
einzuholen.
Kapitel 7
Der Angriff
Bis zur Dämmerung waren so viele Kyrie im Lager eingetroffen, daß Tanis ihre immer größer werdende Anzahl nicht mehr überschauen konnte. Zwanzig, vielleicht zwei Dutzend, schätzte der Halbelf. Die geflügelten Wesen flogen herbei und erstatteten Wolkenstürmer in ihrer eigenen Sprache Bericht. Dann drehten sie sich um, um die Menschen und die anderen zu betrachten. Einige flogen wieder los. Andere zogen Waffen heraus, die gewetzt werden mußten.
Die Chancen wurden besser, erklärte Tanis Flint. Der Zwerg runzelte die Stirn. Er war nicht restlos überzeugt. Ungeduldig wartete er, daß Wolkenstürmer ihnen mitteilen würde, was er von seinen Spähern erfahren hatte.
Flint und Caramon gingen zu dem Kyriekrieger, um mit ihm zu reden. »Wissen wir schon, wo Kitiara festgehalten wird und wie groß die Truppen unserer Gegner sind?« fragte Flint, der sich aus Rücksicht auf die Kyrie der Gemeinsprache bediente. Die anderen, einschließlich Tanis und Sturm, waren hinter ihn getreten. Wolkenstürmer stand auf und sprach ernst zu den Freunden:
»Meine Späher haben die alte Stadt überflogen und viele Dutzend Minotauren gesehen, die überall in den Ruinen lagern. Es sind fast alles Soldaten, alle schwer bewaffnet«, berichtete der Kyriekrieger. »Das Lager des Oberschamanen liegt fast in der Mitte der Ruinenstadt. Es ist nach oben hin offen, aber gut bewacht. In einem Käfig im Lager des Nachtmeisters wird eine Menschenfrau festgehalten. Im Lager ist einiges los, anscheinend werden Vorbereitungen für irgend etwas getroffen. Meine Späher wagen es nicht, zu nahe heranzufliegen, da sie nicht gesehen werden sollen. Einer meiner Brüder meint, er hätte eine kleine Person herumspringen sehen, weder Mensch noch Minotaurus, aber er ist sich nicht sicher.«
»Der verdammte Kender«, murmelte Flint.»Was ist mit meinem Bruder?« Caramon sah
Wolkenstürmer fragend an.
»Bisher«, erwiderte Wolkenstürmer finster, »gibt es keine Spur von
dem Zauberer.«
»Wir wissen also, daß Kit etwa in der Mitte der alten Stadt
gefangensitzt«, sagte Tanis. »Wir wissen auch, daß sie gut bewacht
ist. Wie viele sind wir jetzt… zwanzig, dreißig?«
Keiner gab voreilig die Antwort. Tanis sah sich in der Gruppe um.
Tapfere, aber angespannte Gesichter starrten ihn an. Jedem war
klar, daß die Zahlen eindeutig zugunsten der Minotauren
sprachen.
Wolkenstürmer zuckte mit den Schultern. »Vielleicht weiß Vogelgeist
mehr über das Lager, wenn er zurückkommt«, sagte Wolkenstürmer, um
ihnen Mut zu machen. »Er ist nicht nur mein erster Kundschafter,
sondern auch ein erstklassiger Stratege, wenn es zum Kampf
kommt.«
»Ganz gleich, wie es steht, wir müssen morgen einen Rettungsversuch
machen«, sagte Sturm. Die anderen Gefährten stimmten murmelnd
zu.
»Ja«, pflichtete Wolkenstürmer ihm feierlich bei.
»Morgen.«
Fast unwillkürlich blickten alle hoch. Die Sonne war bereits
untergegangen. Rosiges Zwielicht ging der kalten Nacht
voraus.
»Ich nehme an, wir kommen morgen reichlich zum Kämpfen«, sagte
Flint knurrig. »Am besten bereiten wir uns gut darauf vor.« Damit
zog der alte Zwerg Streitaxt und Wetzstein heraus. Der Rest der
Gruppe traf ähnliche Vorbereitungen für die Schlacht.Als Vogelgeist
zu ihrem augenblicklichen Lager zurückflog, fiel ihm unten etwas
auf. Er kreiste und flog zurück, um einen zweiten Blick darauf zu
werfen. Ein minotaurischer Soldat wälzte sich neben einem großen
Loch auf dem Boden. Offenbar kämpfte er, doch womit? Vogelgeist
riskierte es, tiefer zu gehen, um besser sehen zu können.
Der mindestens sieben Fuß große Stiermann war ein Zwerg im
Vergleich zu dem Tier, mit dem er kämpfte – ein riesiges,
vierarmiges, gepanzertes Monster mit einem Kamm auf dem Rücken. Es
war weit größer als der Minotaurus und mindestens doppelt so lang
wie hoch. Das bizarre Wesen blieb mit seinen vier verhornten Tatzen
dicht am Boden, schlug aber immer wieder nach dem Minotaurus und
schnappte nach ihm. Das Tier hatte den Minotaurus umgeworfen und
hielt ihn mit seinen bösartigen Angriffen vom Aufstehen
ab.
Der Minotaurus versuchte, mit seinem Dreizack nach dem Tier zu
stechen. Wenn er Erfolg hatte, konnte er das beschwerte Netz am
anderen Ende der Waffe nutzen, um es über das Tier zu werfen und es
endgültig umzubringen. Da er aus dem Gleichgewicht gebracht war und
die Angriffe des Wesens abwehren mußte, hatte es der Minotaurus
allerdings schwer, einen Treffer zu landen. Jeder Klauenhieb des
Tiers kostete den Minotaurus mehr Blut.
Im faszinierten Versuch, festzustellen, was für ein Wesen der
Minotaurus bekämpfte, sank Vogelgeist weiter abwärts, bis er
unmittelbar über dem Zweikampf flatterte.
Dem Minotaurus gelang es, aufzuspringen und sich auf den Rücken des
Tiers zu werfen. Während er sich mit einer Hand festhielt, stach er
dem Tier unter den Kamm, wo sein Panzer aus seinem Rücken
herausragte. Mit einem durchdringenden Schrei sprang das Tier
direkt unter dem Kyrie mehrere Fuß hoch in die Luft.
Erst jetzt erkannte Vogelgeist, um was für ein Tier es sich
handelte. Es war ein Landhai, ein gefräßiges Raubtier, das so
selten war, daß weder Vogelgeist noch irgendein anderer Kyrie
seines Wissens je ein Exemplar gesehen hatten.
Aus dem kleinen Korb, der an seiner Seite baumelte, zog Vogelgeist
etwas heraus, das wie gebündelter Efeu aussah.
Unter ihm war der kurzfristige Vorteil des Minotaurus dahin. Der
Landhai hatte es geschafft, sich mitten in der Luft zu drehen und
genau auf den Schultern des Minotaurus zu landen. Der Landhai fing
an, mit seinen Klauenfüßen auf Beine und Rücken des Stiermenschen
einzuschlagen. Zugleich schlossen sich mächtige Kiefer um dessen
Hals.
In diesem Augenblick schoß Vogelgeist nach unten und warf sein
Würgenetz über den Landhai. Da es aus einer seltenen Pflanze, dem
Kriechenden Würger, bestand, wickelte das Würgenetz sein Opfer
rasch ein und machte es zu einem lebenden Paket. Bei jeder Bewegung
des Landhais zog sich die Pflanze enger zusammen, bis deren
gummiartige Tentakel fest um das wilde Monster gewickelt
waren.
Vogelgeist zweifelte daran, ob das Würgenetz gegen den Landhai
ebenso wirkungsvoll gewesen wäre, wenn das wilde Tier nicht
verwundet gewesen wäre. Außerdem war es hilfreich gewesen, daß der
Landhai so mit seinem eigenen Kampf beschäftigt gewesen war, denn
er hatte den Kyrie erst bemerkt, als es zu spät war.
Der Kyriekrieger landete und näherte sich vorsichtig dem Landhai.
Das Ungeheuer schlug weder um sich, noch schrie es. Es blieb
ausgesprochen still liegen, wie tot, beobachtete Vogelgeist jedoch
aus bösartigen, gelblichen Augen. Dem Kyrie gefror das Blut in den
Adern. Der halslose Kopf des Landhais ragte direkt unter seinem
Panzerkragen hervor und endete in einem grausamen, spitzen Kiefer,
der auffallend dem einer riesigen Schnappschildkröte
ähnelte.
Das Würgenetz lag weiter um den Landhai, so daß sein Kopf
unbeweglich war und sein gepanzerter, blaugrüner Körper und die
Beine noch fester umschlossen waren. An der Seite zuckte der
Minotaurus im Todeskampf. Sein rotes Blut tränkte den
Wüstenboden.
Vogelgeist wußte, der gefräßige Landhai würde in seinem Territorium
alles angreifen. Er vergrub sich in der Erde, wenn er ausruhen
wollte, und brach an die Oberfläche durch, wenn er Vibrationen
spürte, die bedeuteten, daß neue Beute nahte. Kein Lebewesen blieb
freiwillig in der Umgebung eines Landhais.
Wie alle Kyrie besaß Vogelgeist magisches Wissen aus der alten
Welt, einen Wissensschatz, der Jahrhunderte älter war als die Magie
der drei Monde, und der die Fähigkeit zur Verständigung mit jedem
Tier einschloß. Trotz seiner Vorbehalte gegenüber dem Landhai
beschloß der mutige Kyrie, daß er mit ihm reden würde.
»Ich will dir nichts tun«, sagte Vogelgeist in der Sprache aller
Tiere. »Ich möchte dir erzählen, warum ich hier bin – und von den
Minotauren, die diese Insel überfluten.«
Das Wesen starrte Vogelgeist weiterhin schweigend an. Schließlich
antwortete es:
»Was kümmerst du mich? Ich will nur meinen Bauch füllen. Diese
dummen Stiermenschen, die ihre Abstammung vom Tier leugnen und sich
für etwas Besseres halten, sind mir gleichgültig.«
Der Landhai war nicht nur bösartig, sondern auch stur, dachte
Vogelgeist.
»Vorläufig würde ich meinen, daß dich noch eine Sache interessieren
dürfte, nämlich, daß die Wunde auf deinem Rücken versorgt wird.«
Vogelgeist hatte den grünen Schleim, wahrscheinlich Blut des
Landhais, bemerkt, der unablässig aus der Wunde quoll, die ihm der
Minotaurus beigebracht hatte. »Mit meinen Heilkünsten kann ich mich
um die Wunde kümmern, wenn du mich einfach anhörst.«
Argwöhnisch antwortete der Landhai: »Obwohl ich dein Gefangener
bin, sollte es dir schwerfallen, mich zu töten, Kyrie. Dennoch
kommt es mir so vor, als hätte ich kaum eine Wahl.«
»Minotauren aus Mithas haben auf dieser Insel einen Außenposten
eingerichtet. Wie du wissen mußt, vernichten oder unterwerfen die
Stiermenschen alles, was ihnen im Weg steht. Das verheißt nichts
Gutes für dich oder alle anderen Lebewesen auf Karthay.« Vogelgeist
legte eine Pause ein und versicherte sich, ob der Landhai
zuhörte.
»Wir Kyrie haben unsere eigenen Gründe, weshalb wir die Minotauren
schnellstmöglich von Karthay vertreiben wollen. Unsere Gruppe
besteht nur aus einigen Kyriekriegern, ein paar Menschen, einem
Zwerg und einem Elfen. Wir würden sehr davon profitieren, wenn ein
erfahrener General wie du und alle Tiere, die du erwählst, an
unserer Seite kämpfen würden.«
Vogelgeist rechnete damit, daß ein Appell an die übersteigerte
Selbsteinschätzung des Landhais nützlich sein würde. Er behielt
recht. Wenn ein großes, dickes, knopfäugiges Untier sich
aufplustern kann, dann war das der richtige Ausdruck für den
Landhai.
Das Untier kehrte jedoch fast augenblicklich zu seiner dickköpfigen
Haltung zurück. »Ich brauche weder Kyrie noch irgend jemand anders,
um die Minotauren zu vernichten. Wenn ich so etwas vorhätte, dann
würde ich es selbst tun, langsam, einen nach dem anderen, mit der
Zeit. Warum sollte ich mich euch anschließen?«
Vogelgeist hegte keine Zweifel, daß der Landhai wahrscheinlich
recht hatte. Er konnte die Minotauren allein erledigen, sofern er
genug Zeit hatte. Aber Wolkenstürmer, Caramon und die anderen
konnten nicht auf dieses Irgendwann warten.
»Wenn du dich mit uns verbündest, versprechen wir, diese Insel dir
und den anderen Tieren für die nächsten tausend Jahre als euer
Reich zu überlassen. Als Anführer der Schlacht würdest du
zweifellos als oberster Häuptling über die Insel anerkannt werden«,
fügte Vogelgeist hinzu. In den kalten, ausdruckslosen Augen des
Landhais konnte Vogelgeist nicht erkennen, welche Wirkung dieses
Angebot hatte. »Und dann wäre da noch deine Wunde, die ich auf
magische Weise heilen kann.«
Der Landhai blieb unentschlossen. Vogelgeist wartete geduldig. Die
Wunde sonderte weiter grünen Schleim ab.
»Meine Verletzung zuerst«, sagte das Ungeheuer. »Dann können wir
darüber reden, wer sich uns in einer Schlacht gegen die Minotauren
anschließen würde. Die Stiermenschen haben keine Freunde unter den
Tieren dieser Insel.« Er schien zu kichern. »Ich allerdings auch
nicht.«Um die Wunde des Landhais zu verbinden, mußte Vogelgeist das
Tier erst von dem Würgenetz befreien. Dazu zerhackte er den
Kriechenden Würger dicht am Stengel und schnitt dann die
Schlingarme an so vielen Stellen wie möglich durch. Später benutzte
er ein paar von den Stücken, um eine Schlinge herzustellen, in der
er das Ungeheuer zum Lager tragen konnte.
Vogelgeist brauchte all seine Kraft, um das Tier anzuheben und mit
ihm zu fliegen. Caramon, Tanis, Sturm, Flint und die anderen
schauten entsetzt auf, als der Kyrie den Landhai kurz nach Einbruch
der Dämmerung in ihrer Mitte absetzte. Obwohl das Tier zahm wirkte,
verzog es sich mürrisch an den Rand des Lagers und starrte
mißtrauisch in die Wüste hinaus.
Wolkenstürmer begrüßte Vogelgeist. Die beiden Kyrie standen abseits
und redeten kurz in ihrer eigenen Sprache miteinander. Dann brachte
Wolkenstürmer seinen Freund strahlend zu den anderen.
»Was sollen wir mit so einem Tier?« fragte Caramon.
»Das Minotaurenlager ist gut bewacht. Wir sind zahlenmäßig weit
unterlegen. Wir brauchen jeden Verbündeten, den wir finden können«,
erklärte Wolkenstürmer. »Es gibt keinen furchtloseren Kämpfer als
einen Landhai. Vogelgeist sagt, dieser hier hätte versprochen,
andere Tiere dieses Landes herzurufen, damit sie uns helfen.
Außerdem hat er von einem Schwarm Bergroche erzählt, die sich
eventuell auch unserer Sache anschließen. Ich werde Zwillingsstern
losschicken, damit er mit den Rochen redet und sie um Hilfe
bittet.«
»Roche!« rief Flint aus. Obwohl Flint ein Hügelzwerg war, kein
Bergzwerg, kannte er dennoch den Ruf dieser großen Raubvögel nur zu
gut. Sie ähnelten überdimensionalen Adlern und hatten eine
Spannweite von bis zu einhundertzwanzig Fuß. Bergzwerge, die in
entlegenen Regionen Minen anlegten, wurden mitunter von Rochen
angegriffen, die ihre Nester verteidigten.
»Es hat noch nie einen Roch gegeben, der einem Zwerg geholfen hätte
– oder umgekehrt«, sagte Flint heftig.
Caramon sah Tanis bittend an. Dieser griff ein, um den Zwerg zu
beruhigen. »Wolkenstürmer hat recht – wir brauchen Hilfe. Wenn
Vogelgeist einen Landhai fangen kann, dann kann Zwillingsstern
vielleicht die Roche für uns zähmen.« Tanis sah die Halbogerin an,
die wie gewöhnlich nicht weit von Flint stand. »Kirsig und ich
werden unser Möglichstes tun, die Roche von dir und dich von den
Rochen fernzuhalten.«
Kirsig, die das Thema Roche und Zwerge sehr ernst nahm,
verschränkte die Arme vor der Brust und nickte
nachdrücklich.
»Wann können wir damit rechnen, daß unsere ungewöhnlichen
Verbündeten sich uns anschließen?« fragte Sturm. Seit seiner
Rettung aus der Grube des Untergangs hatte der Solamnier allmählich
einen tiefen Respekt vor den Kyrie entwickelt und sah keinen Anlaß,
die Weisheit ihres ausgefallenen Plans in Frage zu
stellen.
Vogelgeist neigte den Kopf zum Landhai und schien kurze Zeit zu
lauschen. »Die Botschaft ist ausgesandt. Morgen früh sollten wir
neue Freunde sehen. Am besten warten wir ab. Bis dahin sollten wir
schlafen.«
Der Kyrie befolgte seinen eigenen Rat, hockte sich hin, schloß die
Augen und schlief beinahe sofort ein. Jedenfalls wirkte es so. Kurz
darauf schlug Vogelgeist noch einmal ein Auge auf. »Weckt mich zur
Wache, falls nötig«, sagte er noch und schloß wieder die
Augen.
»Ich habe mich heute ausgeruht, während ihr auf Kundschaft wart«,
stellte Yuril fest. »Ich übernehme die erste Wache und wecke
jemanden, wenn ich müde werde.«
Yuril hob eine Decke auf und ging zu einem großen Baum am Rand des
Waldes, in dessen Deckung sie ihr Lager aufgeschlagen hatten. Die
anderen begannen, sich zu verteilen und bequeme Schlafplätze zu
suchen. Einige Kyrie und die übrigen Seeleute von der Castor hatten sich bereits schlafen
gelegt.
»Ich, äh, muß noch mein Schwert schärfen und meine anderen Waffen
für morgen vorbereiten«, murmelte Caramon vor sich hin. »Ich denke,
ich leiste Yuril Gesellschaft.«
Sturm und Tanis wechselten einen Blick. »Denk aber dran, daß einer
von euch eigentlich Wache halten sollte«, rief Tanis ihm
nach.
In Wirklichkeit machte Caramon sich seit Raistlins Verschwinden am
Morgen unablässig Sorgen über den Verbleib seines Zwillingsbruders.
Er konnte sich nicht vorstellen, daß er einschlafen würde, selbst
wenn er es wollte. Yurils Nähe war allerdings beruhigend.Flint
schlief ebenfalls, aber nicht gut. Seine Träume waren vom Rauschen
großer Flügel erfüllt, die sich über ihm herabsenkten. Kirsig, die
sitzend über den Zwerg wachte, mußte dem Zwerg immer wieder die
Decke umlegen, die er fortgeschoben hatte.
Als er am nächsten Morgen schließlich erwachte, sah Flint, daß die
Geräusche, die seinen Schlaf gestört hatten, der Wirklichkeit
entstammt hatten. Jedoch eher von seltsamen Landtieren als von den
Bewohnern der Lüfte.
Am Südwestrand des Lagers stand der Landhai. Dahinter schien der
Wüstenboden in der frühen Dämmerung zu wogen. Flint sah näher hin.
»Großer Reorx!« rief er aus. Dutzende von riesigen Bodeninsekten,
deren Rücken von harten, schwarzen, beweglichen Platten bedeckt war
und deren Kopf in einem Paar kleiner, aber sicher wirksamer Kiefer
endete, bedeckten den Wüstenboden.
»Horaxe.«
»Was?« fragte Flint den Kyrie, der neben ihm aufgetaucht
war.
»Sie leben unterirdisch und werden fast so lang, wie wir groß sind.
Sie greifen im Rudel an«, erklärte der Kyrie. »Ich hatte zum Glück
noch nie das Pech, in eins hineinzugeraten. Ich habe gehört, sie
quetschen einen mit ihren krummen Scheren zu Tode.«
Als er sah, wie Flints Kiefer herunterklappte, fügte der Kyrie
hinzu: »Keine Sorge. Sie unterstehen dem Landhai, und der Landhai
ist auf unserer Seite – vorläufig.«
»Ihre Scheren sind kräftig, das stimmt«, meldete sich Kirsig zu
Wort, die sich zu ihnen gesellt hatte. Die Halbogerin schien über
jedes beliebige Thema nützliches Wissen zu besitzen. »Mein Papa hat
gesagt, sie könnten wirklich lästig werden, wenn sie einem in die
unterirdischen Tunnel geraten. Normalerweise scheuen sie das
Sonnenlicht. Ich nehme jedoch an, daß sie es während des Angriffs
ein paar Stunden in der Sonne aushalten können.«
Inzwischen waren alle Freunde, die Kyrie und die Seeleute
aufgestanden und starrten die seltsame Horde Tiere an – den
Landhai, die Horaxrudel und ganz hinten seltsame Felsformationen,
die sich bewegten. Flint rieb sich verwundert die Augen.
»Kirsig«, flüsterte er und zupfte die Halbogerin am Ärmel. Flint
zeigte hinter die Horaxe.
Die rötlichbraunen Felsen hatten sich wieder bewegt und damit
bewiesen, daß sie nicht unbelebte Steine, sondern die knubbelige
Haut eines gigantischen Reptils waren. Flint schätzte das
gewaltige, schlangenähnliche Tier auf annähernd zweihundert Fuß –
von der langen, peitschenartigen Schwanzspitze bis zu seinem
pfeilförmigen Maul mit den Reißzähnen. Das Ungetüm schien flach auf
dem Boden zu liegen. Die Füße mit den Schwimmhäuten lagen auf
beiden Seiten seines Schuppenkörpers.
Was Flint für Höhlen im Fels gehalten hatte, waren tatsächlich die
Augenhöhlen des Tiers, die so tief lagen, daß man seine Augen nicht
erkennen konnte. Das Monster schlug müßig mit seinem Schwanz über
den Boden und köpfte dabei mehrere Felsvorsprünge.
»Das große Hatori, und der Größe nach ein sehr altes«, flüsterte
Kirsig. »Auf dieser Insel wird es in den letzten Jahrzehnten wenig
zu fressen bekommen haben, und ein hungriges Hatori ist ein
hungriger Kämpfer, wie mein Papa immer sagte.«
Der Landhai starrte erst die Kyrie und ihre Freunde an, dann die
Armee, die er zusammengerufen hatte. Obwohl keines dieser Raubtiere
seine Konkurrenten liebte, mochten sie die Minotauren noch weniger,
die in der Welt der Wüste als rücksichtslose, arrogante Antreiber
bekannt waren.
Der Landhai hatte ihnen den Plan mitgeteilt, den Vogelgeist und
Wolkenstürmer vorgeschlagen hatten. Die Tiere würden einen Tag lang
gemeinsam kämpfen, und die Kyrie würden ihnen das verlassene
Karthay für tausend Jahre überlassen. Da Kit und wahrscheinlich
auch Raistlin in der Ruinenstadt waren, hatten die Wüstenräuber den
strengen Befehl, keine Menschen oder andere Rassen anzugreifen, nur
Minotauren. Diese konnten sie nach Belieben töten.
Ein plötzlicher Windstoß warf Flint beinahe um. Der Wind ließ nicht
nach, er wehte Decken und Gepäck durch das Lager. Mit sinkendem
Herzen blickte Flint nach oben. Genau über ihnen flatterten vier
Roche, zwei Erwachsene und zwei kleinere, wahrscheinlich ihre
halbwüchsigen Nachkommen. Durchdringende, schwarze Augen
betrachteten die versammelte Gruppe. Mit den kräftigen Körpern, den
schlanken, geschoßgleichen Köpfen und der enormen Spannweite war
jeder Roch so groß wie ein Vallenholzbaum. Ihre glänzend braunen
und gelben Federn und die starken, gekrümmten Schnäbel blinkten in
den Strahlen der aufgehenden Sonne.
Toth-Ur schritt rastlos vor seinem Zelt auf und ab. Die
Nachmittagssonne setzte ihm zu, bis sein glänzend schwarzes Fell
schweißnaß an ihm klebte. Der Nachtmeister und sein Gefolge waren
unbehelligt zum Gipfel des Vulkans aufgebrochen. Nach außen hin
schien alles in Ordnung zu sein, aber in Toth-Urs Schritten lag
dennoch große Unruhe. Zedhar war von seinem Kundschaftsgang am
Vortag nicht zurückgekehrt. Der Kommandant überlegte, ob er einen
Suchtrupp losschicken sollte, aber weil seine Truppenstärke bereits
um die Soldaten vermindert war, die den Nachtmeister begleiteten,
zögerte Toth-Ur noch. Der Oberschamane hatte ihm eingeschärft,
heute wachsam zu sein… besonders heute.
Sein Zelt lag nahe des westlichen Rands der Ruinenstadt Karthay an
einem eingestürzten Wall. Die Hände in die Hüften gestemmt,
musterte Toth-Ur die einsame, karge Landschaft. Ein paar Soldaten
standen an der Seite und erwarteten seine Befehle.
Plötzlich brach eine riesige Gestalt keine zehn Fuß vor dem Zelt
des Kommandanten aus dem Boden, sprang hoch in die Luft und landete
dann schwer auf einem Minotaurensoldaten. Die Gestalt schnappte
einmal zu und brach dem Stiermenschen den Hals.
Bevor die übrigen Soldaten noch ihre Schwerter ziehen konnten,
drang ein Horax nach dem anderen aus dem Loch, das der Landhai
gemacht hatte. Wo der erstaunte Toth-Ur auch hinsah, überall
krochen die seltsamen, schrecklichen Tiere aus dem Boden und
griffen seine kleine Armee von allen Seiten an.
Die Minotauren hatten keine Chance, denn der Angriff der wilden
Tiere kam direkt aus ihrer Mitte. Einige starben auf der Stelle.
Andere hielten durch und kämpften, obwohl ihre Schwerter und Speere
von den Chitinpanzern der Insektoiden einfach abprallten. Wieder
andere zogen sich in bessere Stellungen zurück.
Der Landhai war wie toll. Ungestraft sprang er weiter, um die
Minotauren zu zermalmen und zu zerreißen.
Das Horaxrudel war im Blutrausch. Immer zu zweit oder zu dritt
überwältigten die Tiere einen Minotaurus. Jeweils einer legte seine
Kiefer direkt über dem Huf um ein Bein und brach den Knochen. Ein
dritter Horax griff die Weichteile des Minotaurus an, wenn der
Soldat auf den Boden gefallen war. Dann fraßen die Tiere ihr
Opfer.
Im Süden nahte noch schlimmeres Unheil. Die Wüste selbst schien
sich gegen die Minotauren zu wenden. Das große Hatori war
aufgetaucht und glitt rückwärts auf eine Reihe Minotauren zu, die
tapfer ihre Stellung behaupteten. Mit seinem Knochenschwanz
peitschte es hin und her und erwischte ein halbes Dutzend Soldaten
auf einmal, die es gnadenlos zerquetschte.
Im Norden stießen die riesigen Roche aus den Wolken herab. Ihre
Flügel verdeckten beinahe die Sonne. Sie kreisten außer Reichweite
der Speere, während die Stiermenschen mit allem warfen, was ihnen
in die Finger kam. Bevor Verstärkung eintraf, brauste jeder Roch
auf die Ruinen zu und packte sich gewaltige, ascheverkrustete
Steine, die er auf je zwei oder drei Minotauren gleichzeitig fallen
ließ, um den Feind zu zermalmen. Kyrie flogen zwischen den Rochen
und gaben den Riesenvögeln Befehle.
Überall versuchten die Minotauren, sich neu zu formieren. Für einen
Minotaurus war es undenkbar, einem Kampf auszuweichen, aber dieser
Angriff einer Armee von Monstern irritierte sie. Ihre Augen quollen
hervor. Sie reagierten schlecht organisiert und wirkungslos.
Toth-Ur hatte so etwas noch nie gesehen, nicht einmal im Traum. Der
Kommandant der Minotauren befahl den Rückzug.
Sturm, Flint, Kirsig, Yuril und die anderen Frauen von der
Castor näherten sich hinter dem Hatori. Sie
wichen Speeren und Testos aus, den Stachelkeulen, die viele
Minotauren schätzten.
Während eines Zweikampfs mit einem sieben Fuß großen Ungeheuer, das
einen Katar schwang, hörte Sturm, wie Yuril aufschrie. Mit einem
letzten Stoß stach der Solamnier den Minotaurensoldat in den Bauch
und wich dann dem fallenden Körper aus. Er drehte sich um, um Yuril
zu suchen.
Etwas weiter weg stand die Frau über dem verkrümmten Körper einer
ihrer Gefährtinnen, die neben einem geköpften Minotaurus
lag.
»Das ist Dinchie«, sagte sie und sah Sturm aus nassen Augen an.
»Wir – wir sind viele Jahre zusammen zur See gefahren.« Yuril trat
dem kopflosen Minotaurus in die Seite. Dann stürzte sie sich wieder
in den Kampf. Sturm dachte daran, den Körper der Seefahrerin für
ein späteres Begräbnis an die Seite zu ziehen, aber ehe er dazu
kam, standen zwei behaarte, gespaltene Hufe vor ihm.
Der Solamnier sah gerade rechtzeitig hoch, um ein niederfahrendes
Zweihänderschwert abzuwehren. Der mächtige Schlag ließ sein Schwert
zerspringen. Die Nüstern des Minotaurus blähten sich auf, als er
sein Schwert wieder hob. Sturm fummelte an dem Dolch in seinem
Gürtel herum. Verzweifelt riß er ihn heraus und warf. Er traf
seinen Gegner in den Magen. Der Minotaurus klappte zusammen. Sturm
griff zu und zog das Messer erst mit einem Ruck nach oben, dann
heraus. Dem Stiermenschen quollen die Eingeweide heraus.Der
Kommandant der Minotaurenarmee hatte sich ins Innere der Stadt
zurückgezogen. Aber seine Soldaten waren nicht formiert, und der
Feind schien überall unter und über ihnen zu sein, um sie
unablässig anzugreifen.
Ein Läufer kam zu Toth-Ur. »Eine Bande Kyrie, ein Elf und ein
Mensch sind in die innere Stadt vorgedrungen und haben das Lager
des Nachtmeisters erreicht, wo die Menschenfrau gefangengehalten
wurde.«
Fluchend schrie Toth-Ur: »Folgt mir!« Mit einer kleinen Gruppe
Soldaten stürmte er zu der alten Bücherei.Der Plan war gewesen, daß
die Wüstentiere und die Roche die äußeren Truppen beschäftigen
sollten, bis Caramon, Tanis, Wolkenstürmer, Vogelgeist und die
anderen Kyrie zum Schlupfwinkel des Nachtmeisters durchgestoßen
waren, um Kitiara zu retten. Inzwischen würde bald die Sonne
untergehen, aber Kitiara hatten sie noch nicht gefunden – und
Raistlin ebensowenig.
Seite an Seite hatten sich Caramon und Tanis zum Lager des
Oberschamanen durchgekämpft und die wenigen Minotauren vertrieben,
die als Wachen zurückgeblieben waren. Aber als sie den Verschlag
erreichten, der nach den Worten des Kyrie Kitiara festgehalten
hatte, war der Käfig leer.
Obwohl es ohne jede Deckung gefährlich war, bot Vogelgeist an,
rasch den inneren Bereich der Ruinenstadt zu überfliegen, um sie zu
suchen.
Bevor er abheben konnte, fuhr ein Shatang, ein Wurfspeer mit
Widerhaken, zwischen ihnen nieder. Caramon drehte sich gerade
rechtzeitig um, um sich vor dem Abwärtsschlag von Toth-Urs
beschlagener Keule zu ducken. Der Kommandant, der in der einen Hand
seinen Testo, in der anderen einen Clabbard hielt, stürzte sich auf
den Majerezwilling. Aus dem Grunzen und Waffengeklirr um sich her
schloß der junge Krieger, daß auch seine Freunde im Zweikampf
standen.
Die einfachen Steinwaffen wären gegen das gehärtete Metall der
Minotauren eindeutig im Nachteil gewesen, doch die Vogelmenschen
konnten sich schließlich im Nu in die Luft erheben und die
Minotauren mit ihren Klauen angreifen, während sie die
Angriffsrichtung änderten und ihre Gegner aus dem Konzept brachten,
deren Schwerthiebe oft ins Leere gingen.
Einer der Minotaurensoldaten schleuderte einen Speer, der
Wolkenstürmer in den Flügel traf. Mit dem anderen Arm riß der
Kyriekrieger die Waffe heraus und stieß sie dann dem Soldaten in
den Bauch, der ihm zu nahe gekommen war.
Caramon, der nur ein Schwert hatte, begann angesichts von Toth-Urs
ausgezeichnetem, zweihändigen Angriff zurückzuweichen. Plötzlich
ging ein überraschter Ausdruck über das Gesicht des Kommandanten.
Seine Waffen fielen auf die Erde. Mit einem unwillkürlichen Griff
an seinen Rücken fiel der riesige Minotaurus vornüber. Yuril beugte
sich hinunter und setzte dem Stiermenschen den Fuß auf den Rücken,
um in einer fließenden Bewegung ihr Schwert herauszuziehen.
Ungerührt wischte sie es am Boden ab und salutierte Caramon, indem
sie es an die Stirn führte.
»Gern zu Diensten«, sagte sie mit flüchtigem Lächeln, bevor sie
davonrannte.Als Sturm, Flint und Kirsig durch einen eingestürzten
Säulengang liefen, sprang ein Minotaurus, dem es gelungen war, dem
Hatori und den Horaxen zu entgehen, auf den Zwerg los. Er wirbelte
einen Testo. Flint duckte sich, fiel jedoch hin und stieß sich den
Kopf an. Benommen sah der Zwerg zu, wie der Soldat sich mit
erhobener Keule breitbeinig über ihn stellte.
Kirsig stieß einen Schrei aus wie von einer Todesfee, warf sich mit
ganzem Gewicht auf den Soldaten, wollte ihn umstoßen. Flint kroch
zur Seite. Er schüttelte den Kopf, um wieder zu sich zu kommen.
Beim Blick zurück sah der Zwerg, wie der Minotaurus unter Kirsigs
Überraschungsangriff taumelte, sich dann aber fing. Der Stiermann
schnappte sich die Halbogerin mit einer Hand, um ihr dann mit der
anderen den Schädel einzuschlagen.
Zu spät war Sturm bei dem Minotaurus und bohrte ihm treffsicher das
Schwert zwischen die Hörner. Ihre tapfere Gefährtin Kirsig war
tot.»Mein Held.«
Vogelgeist, der Tanis trug, hatte die Menschenfrau entdeckt, die in
einem nahen Stadtteil an eine zerbrochene Säule gefesselt war. Ein
einsamer Minotaurus bewachte sie nach wie vor, doch der Kyrie und
der Halbelf machten kurzen Prozeß mit dem hartnäckigen
Soldaten.
Da Kitiara vom Ringen mit ihren Fesseln erschöpft und zudem
enttäuscht war, weil sie nicht an der Schlacht teilnehmen konnte,
die sie in der Ferne wahrgenommen hatte, begrüßte sie Tanis
gereizt.
»Du hast die schlechte Angewohnheit, mich zu retten«, sagte sie,
als der Halbelf sie losband. Mit großen Augen sah sie Vogelgeist
an, der den Blick grinsend erwiderte. »Diesmal habe ich allerdings
wohl wirklich ein bißchen Hilfe gebraucht«, fügte sie grollend
hinzu.
»Keine Ursache«, erwiderte Tanis. Er wußte, ein ausdrücklicheres
Dankeschön würde er von Kitiara Uth Matar niemals
bekommen.
In seinen Augen sah Kit ausgehungert und schmutzig aus. Eilig holte
Tanis ein Stück Trockenfleisch aus einem Beutel und gab es ihr.
Kitiara schlang es hungrig herunter. Als er ihr zusah, wurde sich
Tanis trotz ihres halbverhungerten, schmierigen Aussehens erneut
ihrer herben Schönheit bewußt.
Caramon kam angerannt und schloß Kitiara ungestüm in die Arme.
Sturm war dicht hinter ihm, dann kam Yuril.
»Wo ist Raist?« fragte Caramon.
Vogelgeist schüttelte den Kopf. Tanis fragte zurück: »Wo sind Flint
und Kirsig?«
»Die Halbogerin ist tot«, sagte Sturm finster. »Sie ist tapfer im
Kampf gefallen. Flint geht es gut.« Er winkte mit dem Arm. »Er ist
da drüben und kämpft.«
Kit hatte sich Knöchel und Handgelenke massiert. Sie wirkte bereits
munter und voller Tatendrang. Sie zeigte zum Dach der Welt.
»Raistlin war hier, aber er hat angeboten, meinen Platz als Opfer
des Nachtmeisters einzunehmen. Ich glaube, sie sind da oben. Wir
haben keine Zeit zu verlieren.« Die Nacht brach herein. »Aber wie
erreichen wir rechtzeitig den Gipfel?«
Wolkenstürmer und die drei anderen Kyrie waren inzwischen gelandet.
»Wir können im Nu hinauffliegen«, sagte der Kyriekrieger.
Kit schien zu zweifeln. Tanis versicherte ihr, daß es möglich
war.
»Sturm«, befahl Caramon, »such Flint und sag ihm und den anderen,
daß wir uns zurückziehen. Überlaßt die Minotauren der Armee der
Tiere. Verschwindet aus der Ruinenstadt. Wir treffen uns am
Lagerplatz von letzter Nacht.«
»Aber – «, protestierte der Solamnier.
»Keine Zeit. Wir haben nicht genug Kyrie, um alle hochzubringen«,
warf Tanis ein, »und jemand muß Flint warnen.«
Sturm nickte und rannte davon.
Wolkenstürmer ergriff Caramon und hob ab. Vogelgeist nahm Tanis.
Die anderen beiden Kyrie folgten ihnen mit Yuril und
Kitiara.
Sie brausten hoch zum Dach der Welt.
Die wütende Schlacht ließen sie hinter sich. Heute nacht würden der
Landhai, das Hatori und die Roche sich sattfressen können.
Kapitel 8
Der Zauber für Sargonnas
Der Legende nach war das Dach der Welt während der Umwälzung zum letzten Mal ausgebrochen. Der vulkanische Todesregen hatte die Stadt Karthay und ihre Bewohner völlig vernichtet. Karthay war seit dieser Zeit unbewohnt gewesen, bis der Nachtmeister und seine Jünger gekommen waren, um ihre geheimen Vorbereitungen zu treffen, damit Sargonnas in die Welt Einzug halten konnte.
Das Dach der Welt stand wie ein riesiger, zerklüfteter Zahn am Rand der Stadt, wo der Berg eine ausgezeichnete Barriere nach Norden und Westen darstellte. Seine Hänge waren von tiefen Schluchten und undurchdringlichen Haufen erstarrter Lava durchzogen. Der Nachtmeister und seine Akolythen hatten Monate damit zugebracht, einen Pfad zum Gipfel zu brechen, einem schwarzen, leblosen Krater.
Aus der Ferne sah es so aus, als wäre die Spitze des Berges abgeschnitten. Unzählige steile Glutkegel übersäten den ungewöhnlich breiten Krater. Überall waren Zeichen vulkanischer Aktivität zu sehen, einschließlich Basaltbrocken, Abdrücken von Baumstämmen und Riesenkreuzkraut, die von inzwischen erstarrter Lava umflossen worden waren. Geysire brodelten. Dampf- und Gasfontänen zischten aus Bodenspalten empor.
Eine ovale Mulde im Krater war größer und lebhafter als die übrigen. Das war das Herz des Vulkans, das von abgekühlter Lava überkrustet war. Sein Zentrum bestand aus einem Felspfropf, der sich tief im Auslaß des Vulkans verhärtet hatte.
Der Nachtmeister glaubte, daß unter der ovalen Vertiefung der eigentliche Vulkankrater lag, dessen Ausbruch dem Einbruch der Spitze ins Zentrum des Berges vorausgegangen war. Und unter dem ursprünglichen Krater wartete wiederum die Feuerfontäne, die die vulkanische Aktivität erneut entfachen konnte. Seit Wochen hatten die Gefolgsleute des Nachtmeisters zusammen mit den Minotaurentruppen daran gearbeitet, die Öffnung freizulegen.
Von seinem Lager an der aschebedeckten Terrasse der einst großartigen Bibliothek der alten Stadt war der Nachtmeister regelmäßig zu einem Bergplateau im Westen von Karthay gewandert, um die Zeichen zu deuten. Der Zauberspruch, der Sargonnas rief, würde hier gewirkt werden, auf dem Gipfel und im Herzen des Vulkans.
Alles war vorbereitet. Die Akolythen und eine ausgewählte Anzahl Minotaurensoldaten lagerten seit Tagen auf dem Gipfel, wo sie das benötigte Labor aufgebaut, die verschiedenen Zutaten – Talismane, Steine und tote Tiere – aufgereiht und die Bücher und Spruchrollen bereitgelegt hatten, die der Nachtmeister brauchen würde, um den Zauber zu sprechen.
Nach langen, arbeitsreichen Stunden war jetzt die Spitze des ursprünglichen Vulkans ausgegraben und der Mund der Feuerfontäne freigelegt. Der Durchmesser der Öffnung betrug rund ein Dutzend Fuß. Tief unten konnte man feurige, orangerote Lava blubbern und brodeln sehen.
Die Soldaten hatten am Rand der Öffnung ein Holzgerüst gebaut. Ein Dutzend Stufen führten zu einer Plattform, von der aus man die Feuerfontäne überblicken konnte.
Die Sterne standen beieinander. Der Tag wich der Nacht. Alles war bereit, als der Nachtmeister und seine Gruppe den Gipfel erklommen. In seinen zeremoniellen Pelzen und Federn schritt der Nachtmeister mit klingenden Glöckchen stolz auf die ovale Vertiefung zu, die den eigentlichen Krater beherbergte. Er lief zwischen einem Spalier von Akolythen und Soldaten hindurch, die sich aufgestellt hatten, um ihn zu begrüßen.
Dem Nachtmeister folgten zahlreiche bewaffnete Minotauren und die Hohen Drei, die Schamanen. Dahinter kam ein junger, dünner Mensch in dunkler Robe, der stolpernd von dem mürrischen Dogz mitgezerrt wurde, und ein Kender ohne Haarknoten, der begeistert von dem glorreichen Schauspiel des Bösen plapperte, dessen Zeuge er nun werden würde.»Raistlin, verrate mir, wie du herausgefunden hast, daß ich diesen alten, allgemein vergessenen Zauber wirken will. Befriedige meine Neugier. Du weißt, du stirbst ohnehin.«
Der Nachtmeister beugte sich mit triumphierendem Grinsen über Raistlin.Der junge Magier saß eisern schweigend auf einem Stein in der Nähe des Kraters. Die Arme waren ihm hinter dem Rücken zusammengebunden, und auch die Füße waren mit einem Seil gefesselt. Aber Raistlin weigerte sich, seine Niederlage einzugestehen. Statt dessen lächelte er den Nachtmeister bei seiner Antwort rätselhaft an.
»Das war Zufall. Es war nur eine zerrissene Seite in einem vergilbten Zauberbuch, die mir auffiel. Ich wußte, daß der Spruch etwas mit minotaurischen Ritualen zu tun hatte. Soviel war klar. Und es wurde Sargonnas erwähnt, der Herr der Finsteren Rache. Aber ich hatte keine Chance, die Zutaten zusammenzubekommen, und mehr kümmerte mich nicht.
Dann erwähnte mein Freund, Tolpan Barfuß«, hier nickte Raistlin in Richtung des Kenders, der zwischen den Mitgliedern der Hohen Drei herumsprang, denen er beim Mischen von Tränken und Ingredienzien helfen wollte, aber vor allem im Weg war, »zufällig einen kräuterkundigen Minotaurus auf der Insel Südergod. Ein kräuterkundiger Minotaurus… meine Neugier war geweckt. Ich fragte einen Freund von Tolpan, einen Kender, der mir manchmal Wurzeln, Kräuter und anderes verkaufte, nach bestimmten, speziellen Zutaten, die auf der zerfledderten Seite des vergilbten Zauberbuchs erwähnt wurden.
Eine dieser Zutaten war das Jalopwurzpulver, und der Kender versicherte mir, daß der Minotaurus es vorrätig hätte. Zusammen mit meinem Bruder und einem Freund bot sich Tolpan freiwillig an, nach Südergod zu reisen, um das Jalopwurzpulver zu kaufen.«
Hier legte Raistlin eine Pause ein und blickte sich um. Der fahle Abend war angebrochen und versprach eine kalte Nacht, in der man die Sterne deutlich sehen würde.
Die Akolythen und Truppen hatten sich an den Rand des Gipfels zurückgezogen, wo sie in sicherer Entfernung auf das kommende Schauspiel warteten. Schweigend und ernst hielten sich die wenigen Soldaten vom Nachtmeister, Raistlin und den anderen fern. Sie hielten ihre Waffen hoch, so daß der Stahl und die eingelassenen Edelsteine im Licht der Zwillingsmonde glänzten.
Dogz stand neben dem Nachtmeister, um Raistlin
zu bewachen.
»Selbst da habe ich mir noch nicht viel dabei gedacht«, fuhr der
junge Magier fort. »Es gehört zu meinem Beruf, mich für exotische
Kräuter und seltene Sprüche zu interessieren. Dann verschwanden
allerdings mein Bruder, sein Freund und Tolpan. Und vor ihrem
Verschwinden schickte mir Tolpan eine magische Flaschenpost, die
mir alles über die seltsame Hinrichtung des kräuterkundigen
Minotaurus berichtete.
Der Überbringer der Flaschenpost fügte ein paar seltsame
Einzelheiten über das vermißte Schiff und seinen verräterischen
Kapitän hinzu. Nach Erfüllung seiner Aufgabe schien der Kapitän auf
eine Weise umgekommen zu sein, die mir eindeutig magisch
erschien.«
Raistlins Augen glitzerten schlau.
»Das meiste habe ich mir danach zusammengereimt. Ich ging wieder an
mein zerfallenes Zauberbuch und las und prüfte diesen einen Spruch.
Ich besprach meine Schlußfolgerungen mit«, hier zögerte er, »sagen
wir, einem erfahrenen Ratgeber. Durch diese Bemühungen dämmerte mir
allmählich, daß das Jalopwurzpulver nur ein kleiner Teil eines
magischen Vorhabens war, das gewaltiger war als alles, was ich
vermutet hatte. Dieser ehrgeizige Spruch mußte Minotauren von
höchstem Rang einbeziehen, und der geplante Zauber würde im
Erfolgsfall Sargonnas, den Gott der Minotauren, auf die materielle
Ebene bringen. Der logische Ort für solch ein Ritual würde hier bei
den Ruinen von Karthay sein, am letzten bekannten Ort auf Krynn, wo
der Herr der Rache seinen feurigen Zorn gezeigt hat.«
»Du hast meine magische Flaschenpost also erhalten!« zirpte Tolpan.
Der Kender war hinter Raistlin aufgetaucht. »Ich bin froh, daß sie
nicht verschw-«
Der Nachtmeister schnappte sich Tolpan, dessen Gewohnheit, einfach
loszuplappern, ihn allmählich ärgerte. Er klemmte sich den Kender
ziemlich grob unter einen Arm und hielt ihm mit seiner riesigen
Hand den Mund zu.
Raistlin sah die beiden kühl an.
»Ja«, schnurrte der Nachtmeister, während Tolpan sich größte Mühe
gab, aus dem festen Griff des Oberschamanen zu entkommen. »Tolpan
hat dir eine magische Flaschenpost geschickt. Ihr zwei seid alte
Freunde, nicht wahr? Wie gefällt dir denn der neue, bessere Tolpan
– dem einer meiner Jünger einen Trank verabreicht hat? Der macht
ihn zu einem bösen Kender. Er war uns bisher«, der Nachtmeister
drückte Tolpan fest, »von größtem Nutzen, und ich denke doch, daß
er uns auch in Zukunft nützlich sein wird.«
Raistlin sah den zappelnden Kender an. Dann ging sein Blick zum
Nachtmeister zurück. »So habt ihr es also geschafft«, sagte
Raistlin. »Ein Trank.«
»Zweifelst du daran?« grollte der Nachtmeister. Einen Augenblick
nahm der Nachtmeister seine Hand von Tolpans Mund.
»Es stimmt«, sagte Tolpan, der sein Gesicht zu einer möglichst
gräßlichen Fratze verzog. »Ich bin jetzt unglaublich böse. Tolle
Veränderung, was?«
Der Nachtmeister schlang seinen Arm wieder um den Kender, und
Tolpan zappelte weiter.
»Ich hätte erwartet«, sagte Raistlin schlicht, »daß so ein Trank
keine Langzeitwirkung hat.«
Der Nachtmeister lächelte. »Du hast ganz recht«, knurrte er.
»Dogz!« Dogz kam näher, und der Nachtmeister reichte ihm den
Kender. »Gib Tolpan seine doppelte Dosis – jetzt!«
Dogz sah den Nachtmeister an, wandte den Blick jedoch sofort zur
Seite. Seine Augen trafen kurz die von Raistlin. Dann nickte Dogz
dem Nachtmeister zu.
Dieser richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Raistlin. »Ich
danke dir, daß du mich erinnert hast.«
Dogz führte den Kender trotz seiner Proteste in eine abseits
gelegene Ecke, wo ein kleiner Tisch aufgebaut war. Raistlin sah,
wie Dogz den Kender an den Schultern hinsetzte, etwas in einem
Becher umrührte und dem Kender den Inhalt einflößte. Anschließend
beobachtete Raistlin, wie Dogz den Kender eine Weile ansah, bis der
Kopf des Kenders nach vorn sackte und er friedlich auf seinem Stuhl
einschlief.
Um sie herum waren die Vorbereitungen für den Zauberspruch in
vollem Gang. Fesz und die anderen beiden Minotaurenschamanen warfen
händeweise Zutaten, die sie aus Gläsern und Bechern nahmen, in den
geöffneten Krater. Nach jahrhundertelangem Schlaf hatte der Vulkan
begonnen, zu zischen und zu fauchen. Ein blaßorangefarbenes Licht
drang aus der Öffnung des Feuerlochs.
Dogz trottete zu Raistlin und dem Nachtmeister zurück. »Ich hätte
den Kender als Blutopfer in Betracht gezogen«, grollte der
Nachtmeister, »wenn Kender nicht eine so unbedeutende Rasse wären.
Sargonnas würde einen Menschen weitaus vorziehen, und ein junger
Magier wie du wird die Wirkung des Spruches deutlich erhöhen, wie
du dir vielleicht vorstellen kannst.« Hier hielt er inne und
musterte Raistlin genau.
»Ich weiß so wenig von den Sitten der Menschen. Erkläre mir, warum
du weder die weißen, die roten noch die schwarzen Roben
trägst.«
»Ich habe die Prüfung noch nicht abgelegt«, sagte Raistlin, »und
ich habe noch nicht gewählt, welche Farbe ich eines Tages tragen
werde.«
»Wenn du eine schwarze Robe hättest«, überlegte der Nachtmeister,
»wären wir auf derselben Seite. Du würdest Sargonnas verehren wie
ich.«
»Ich weiß nur sehr wenig über Sargonnas. Das ist einer der Gründe,
weshalb ich gekommen bin.«
»Du bist gekommen, um deinen Bruder zu retten«, sagte der
Nachtmeister höhnisch.
»Teilweise«, antwortete Raistlin, »und teilweise, weil mich alle
magischen Orden interessieren – der schwarze, der weiße und der
neutrale.«
»Wirklich?«
Die Hohen Drei hatten ihre Vorarbeiten beendet. Dogz stand mit
verschränkten Armen im Schatten. Fesz kam zu ihnen und unterbrach
ihr Gespräch.
»Verzeihung, Exzellenz«, sagte Fesz, »aber wir sind
soweit.«
Der Oberschamane nickte ihm zu. Fesz drehte sich um.
Der Nachtmeister beugte sich zu Raistlin herunter und blies ihm
seinen heißen, stinkenden Atem ins Gesicht. Der Oberschamane
untersuchte den jungen Magier aus Solace mit neuem Interesse.
Raistlin zuckte nicht mit der Wimper.
»Also deshalb«, knurrte der Nachtmeister, »wolltest du freiwillig
den Platz deiner Schwester einnehmen… weil du den Spruch beobachten
und Sargonnas persönlich kennenlernen wolltest – was dir sicher
gelingt, denn du bist das Opfer, das seinen Eintritt in diese Welt
ermöglicht.«
Raistlin wartete lange, bevor er seine Antwort gab. »Teilweise«,
sagte er nur.
Der Nachtmeister holte aus und schlug Raistlin ins Gesicht, worauf
der von dem Stein rollte, der ihm als Stuhl gedient hatte. Blut
rann über Raistlins Gesicht. Um das Maß vollzumachen, trat der
Nachtmeister den jungen Magier fest in die Seite, als der schon am
Boden lag. Noch immer schrie Raistlin nicht auf.
Dogz wartete mit verschränkten Armen und ungerührtem
Gesicht.
»Wachen!« schrie der Nachtmeister. Zwei bewaffnete Minotauren
lösten sich von den anderen am Rand des Gebiets und rannten herbei.
»Bringt diesen armseligen Menschen zum Krater und haltet ihn fest,
bis ich ihn brauche!«
Die Soldaten hoben Raistlin hoch und schleppten ihn so nahe an den
Kraterrand, daß die Hitze von unten ihn versengte.
Die Hohen Drei stellten sich auf der anderen Seite des Kraters
auf.
Der Nachtmeister legte einen scharlachroten Mantel über und stieg
über die Stufen das Gerüst hoch. Oben lag auf einem Pult ein dickes
Buch.
Raistlin schüttelte den Kopf, um ihn nach dem Schlag des
Nachtmeisters wieder klarzubekommen. Er war nur etwas benommen.
Obwohl die Soldaten ihn gut festhielten, konnte der junge Zauberer
sich verrenken und Tolpan hinter den Hohen Drei erkennen. Der
Kender saß immer noch zusammengesunken auf seinem Stuhl.
Auf dem Gerüst hob der Nachtmeister seinen gehörnten Kopf, holte
tief Luft und blickte zum Himmel.
Kälte umklammerte den Gipfel, obwohl kein Wind ging. Die Wolken,
die den Himmel während der letzten Nächte verdeckt hatten, waren
verschwunden. Die Sterne glänzten wie Leuchtfeuer.
Raistlin fühlte nicht nur die durchdringende Hitze des Vulkans,
sondern jetzt hörte er auch deutlich die feurige, orangefarbene
Flüssigkeit, die allmählich an die Oberfläche
hochbrodelte.
Der Nachtmeister begann, in einem alten minotaurischen Dialekt aus
dem Buch vorzulesen. Seine kehlige Stimme wurde immer
lauter.
Die Hohen Drei begannen im Hintergrund zu murmeln. Raistlin konnte
kaum ein Wort verstehen, nur gelegentlich eine Anrufung von
Sargonnas. Während der Nachtmeister den Zauber sagte, bewegte er
seine kraftvollen Arme auf seltsam schöne Weise. Mit den Händen
malte er komplizierte Zeichen in die Luft. Hinter ihm bauschte sich
sein Mantel. Die kleinen Glocken an seinen spitzen, gekrümmten
Hörnern klingelten eine Begleitmusik zu jeder seiner Bewegungen.
Seine tiefe Bullenstimme, die geheimnisvolle Sätze ausstieß, stand
in seltsamem Kontrast zu seinen tänzerischen Bewegungen.
Zack! Aus dem Nichts traf ein Gegenstand eine der Minotaurenwachen
so kräftig an den Hals, daß der Stiermensch Raistlin auf der Stelle
losließ, sich an die Kehle griff und tot umfiel.
Bevor jemand reagieren konnte, erkannte Raistlin im Augenwinkel
noch etwas, das vorbeiflog, diesmal noch größer. Es war Tolpan
Barfuß.
Aus dem Schatten sprang Tolpan auf den Rücken des anderen
Minotaurus, der Raistlin festhielt. Er tat sein Bestes, ein Wesen
zu erdrosseln, das dreimal so groß und sechsmal so schwer wie der
Kender war. Allerdings machte er seine Sache recht ordentlich, denn
der Kender war so hoch oben gelandet, daß der Minotaurus nicht hoch
genug greifen konnte, um Tolpan zu erwischen.
Aber gleich darauf kam Fesz angesprungen und riß Tolpan herunter.
Obwohl der gleich wieder aufstand, bewegte er sich unsicher. Fesz
konnte ihn leicht am Kragen ergreifen und den zappelnden Kender
mehrere Fuß hoch in die Luft heben.
»Du machst mir Schande, Kender!« donnerte Fesz, der Tolpan so
heftig schüttelte, daß der Kender Schluckauf bekam. »Du, dem ich
geglaubt und vertraut habe – du, den ich böse gemacht habe – du,
den ich mit dem großen Privileg beehrt habe, die Ankunft von
Sargonnas mitzuerleben – du – du – «
Der Minotaurenschamane schäumte vor Wut und Enttäuschung.
Inzwischen hatte sich der Minotaurensoldat wieder gefangen. Er
hatte Raistlin nicht einmal losgelassen.
Dem jungen Zauberer fiel kein Spruch ein, den er ohne Zuhilfenahme
seiner Hände hätte sagen können. Immer noch gefesselt, blieb
Raistlin nichts weiter übrig, als gebannt zu beobachten, wie sich
alles entwickelte.
»Großes Privileg« – hicks – »pfui!« Tolpan spuckte Fesz in sein
stinkendes Stiergesicht. »Ihr Hornochsen könnt doch Ehre nicht von«
– hicks – »Kuhfladen unterscheiden. Ich habe genug von eurem
scheußlichen Atem, euren arroganten Hörnern, die sich jeder blöde
Ochse wachsen lassen könnte« – hicks – »euren stinkenden Schränken,
euren ungehobelten Manieren« – hicks, hicks…
Tolpan war fast lila vom vielen Schütteln.
Plötzlich brachte donnerndes Gebrüll beide zum Schweigen. Alles
blickte zur Spitze des Gerüsts, wo der Nachtmeister stand, der bei
dem Handgemenge kurzfristig in Vergessenheit geraten war. Mit
seinen geballten Fäusten und den wütend gefletschten, spitzen
Zähnen war der Nachtmeister wie der Zorn persönlich.
»Ruhe!« brüllte der Nachtmeister herunter. »Ihr unterbrecht den
Zauber!«
»Aber – «, grollte Fesz flehentlich, »aber der Kender – «
»Mach Schluß mit ihm«, befahl der Nachtmeister. »Schmeiß ihn in den
Krater!«
»Ja«, sagte Fesz schwach.
»Nein!« brüllte eine andere Stimme.
Raistlin, der zum Nachtmeister hochgeschaut hatte, drehte gerade
rechtzeitig den Kopf, um zu sehen, wie Fesz sich an die Kehle
griff. Dort steckte so tief, daß der Schamane ihn nicht
herausziehen konnte, ein Dolch mit einem Hförmigen Griff – der
sorgsam polierte Katar von Dogz. Fesz ließ Tolpan fallen, der mit
einem Bums aufkam. Dann fiel der Minotaurenschamane um. Er war
tot.
Vom Gerüst donnerte der Nachtmeister: »Bringt ihn um!«
Dogz versuchte noch nicht einmal davonzurennen und wehrte sich auch
nicht, als ihn einige Soldaten umstellten und drohend Speere und
Schwerter erhoben. Um die Wahrheit zu sagen, hätte der Minotaurus
nicht sagen können, warum er getan hatte, was er getan hatte – das
Undenkbare: Verrat. Nur, daß er den Kender, Tolpan Barfuß, mochte.
Besonders jetzt, wo Tolpan anscheinend sein altes Selbst
wiedergefunden hatte. Dogz hatte aus einem Instinkt heraus
reagiert, von dem er vorher nichts geahnt hatte – dem Instinkt der
Freundschaft.
Dogz ging in die Knie.
Der Kender kam von seinen hoch.
Hicks.
Obwohl Raistlin von der verbliebenen Minotaurenwache gut
festgehalten wurde, versuchte er, einen Spruch zu finden, den er in
dieser verzweifelten Lage zustande bringen könnte. Da brachte ihn
Tolpans Schluckauf auf etwas: der Unsichtbarkeitszauber, den
Raistlin an diesem Tag bereits benutzt hatte, um durch die
Minotaurenwache zu schleichen. Er würde Raistlin jetzt nicht viel
helfen, aber wenn er ihn auf jemand anderen sprechen konnte… Er
würde nicht lange halten, aber doch so lange, daß Tolpan fliehen
konnte. Der junge Magier konzentrierte sich. Hinter seinem Rücken
bewegte er die Finger in den Fesseln.
Raistlin murmelte die Worte für den Zauber, setzte Tolpans Namen
ein und konzentrierte sich mit aller Macht auf die Stelle, an der
Tolpan stand.
Mit einem leisen Plopp verschwand der Kender.
Der Nachtmeister, der einen Blitzschlag auf Tolpan vorbereitete,
verfluchte sich selbst. »Trottel! Ich bin ein Trottel!« tobte er.
»Daran hätte ich denken müssen.« Der Oberschamane lehnte sich über
die Brüstung des Gerüsts und schrie dem Soldaten, der Raistlin
hielt, zu: »Steck ihm einen Knebel in den Mund und sorg dafür, daß
der Zauberer nicht sprechen kann. Dann bring ihn zu mir
hoch.«
Der Wächter warf Raistlin auf den Boden und band ihm grob mit einem
schmutzigen Stück Stoff den Mund zu. Dann begann er, Raistlin zur
Treppe hinzuschleifen.
Der Nachtmeister beugte sich auf der anderen Seite über die
Brüstung und brüllte einigen seiner Jünger, die außerhalb der
Soldatenreihe standen, zu: »Der Kender ist unsichtbar! Sucht ihn
und tötet ihn!«
Vier Minotauren rannten dorthin los, wo der Kender gerade noch
gestanden hatte, und begannen, herumzusuchen. Sie bückten sich und
sahen argwöhnisch in die dünne Luft.
Hicks.
Jedesmal, wenn die Soldaten einen Hickser hörten, fuhren sie herum
und rannten zu einem anderen Fleck, wo sie nach etwas stachen, das
nicht da war, und miteinander zusammenstießen.
Der Nachtmeister beugte sich zu den Hohen Drei hinunter, die nach
Fesz’ Tod nur noch die Hohen Zwei waren, und rief: »Weitermachen!
Der Spruch ist fast vollendet!«
Die beiden Minotaurenschamanen, die durch den unerwarteten Tod von
Fesz, dem Nachfolger des Nachtmeisters, erschreckt worden waren,
hatten aufgehört zu singen. Sie wirkten verstört. Aber der
mörderische Ausdruck im Gesicht des Nachtmeisters reichte aus,
damit sie wieder ihre unterstützende Rolle für den Spruch
übernahmen und die notwendigen Sätze anstimmten.
Der Nachtmeister richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Raistlin,
der gerade von dem Bewaffneten auf die oberste Stufe gezerrt wurde.
Der Oberschamane ergriff den Arm des jungen Magiers und befahl dem
Soldaten, sich den Truppen unten anzuschließen. Das tat der
Minotaurensoldat mit Freuden.
Raistlin konnte weder Arme noch Beine bewegen. Sein Mund war so
fest verschlossen, daß er fast erstickte. Der Nachtmeister brachte
ihn an den Rand des Gerüsts und hielt ihn über die Kante.
Von diesem Punkt aus schien das flüssige Feuer in der Vulkangrube
überzukochen. Die Hitze versengte dem jungen Magier das
Gesicht.
»Merk’s dir gut, Zauberer«, zischte der Nachtmeister, »denn bald
wirst du vom Herrn der Vulkane verschlungen.«
Mit einer kräftigen Drehung warf der Nachtmeister Raistlin in eine
Ecke des Gerüsts. Der Oberschamane wandte sich wieder dem dicken
Zauberbuch zu und machte an der Stelle weiter, wo er aufgehört
hatte.
Hicks.
Unten versuchten die Akolythen des Nachtmeisters, dem Hicksen
nachzulaufen und den unsichtbaren Kender zu fangen. Wieder und
wieder griffen sie ins Leere.
Der Nachtmeister verdrängte die Geräusche. Jetzt, wo er seinem Ziel
so nahe war, konnte ihn nichts mehr aufhalten. Erneut begann er, in
einem alten Dialekt zu grummeln. Erneut bewegte er die Arme, um den
mächtigen Spruch zu sagen.
Raistlin lag zusammengekrümmt in der Ecke der Plattform. Er fühlte
sich besiegt. Mit seinen feinen Ohren konnte er das Hicksen unten
hören. Der junge Magier wünschte, Tolpan würde Hilfe holen oder
flüchten oder wenigstens aufhören zu hicksen.
Der Nachtmeister drehte eine Seite um.
Hicks.
Der Schluckauf kam jetzt seltener – wie Donnern nach dem Durchzug
des Sturms. Die Jünger des Nachtmeisters hatten aufgegeben. Sie
hatten keine Ahnung, wie sie einen unsichtbaren Kender fangen
sollten. Diejenigen, die Tolpan suchen sollten, versammelten sich,
weil sie der Anblick fesselte, wie der Nachtmeister auf dem Gerüst
seinen großen Zauber wiederaufnahm.
Hicks.
Ein Minotaurensoldat merkte, wie ihm das Schwert aus der Scheide
gezogen wurde. Gerade noch rechtzeitig hielt er den Griff fest und
eroberte ihn nach einigem Gezerre mit etwas Unsichtbarem zurück.
Der Minotaurus schlug nach dem Etwas, traf jedoch daneben. Einer
nach dem anderen schlugen die Soldaten um ihn her zu, verfehlten
aber ebenfalls. Dann zog ein Soldat sein Schwert, holte wild aus
und schnitt dabei dem Minotaurus direkt neben ihm das Ohr
ab.
Hicks.
Das Geräusch erklang dort, wo Dogz auf den Knien wartete. Er war
von einem Pulk Minotaurensoldaten umgeben. Die Soldaten gingen dem
Hickser nach, konnten jedoch nicht genau feststellen, woher er
gekommen war. Ein paar von ihnen verließen Dogz, umklammerten ihre
Waffen und schnupperten mißtrauisch. Damit verblieben nur drei
Wachen bei dem Verräter.
Auf dem Gerüst blätterte der Nachtmeister die Seite um und las mit
seiner tiefen Stimme die geheimnisvollen Sätze längst vergangener
Zauberei weiter vor.
»Psst, Dogz! Ich bin’s, Tolpan.«
Dogz’ traurige Augen gingen auf, doch er sorgte sich mehr um die
Sicherheit des Kenders als um sich selbst. Die drei Wachen standen
einige Fuß weiter mit dem Rücken zu ihm, denn sie beobachteten den
Nachtmeister. Sie hatten Tolpan nicht gehört.
Mit den Augen gab Dogz zu verstehen, daß er ihn gehört
hatte.
»He, ich möchte dir danken, daß du Fesz getötet hast! Das war
wirklich eine tolle Sache. Du bist ein wahrer Freund! Natürlich
hätte ich das auch schon längst getan, wenn nur – «
Mit den Augen versuchte Dogz, dem Kender mitzuteilen, daß er von
hier verschwinden sollte – weit fort von Dogz –, bevor die
bewaffneten Wachen sich umdrehten.
»Sag mal, Dogz, du hast nicht zufällig einen kleinen Dolch oder so
was-«
»Fesz«, knurrte Dogz so leise wie möglich.
Eine der Wachen hörte ihn. Sie drehte sich um und starrte Dogz
argwöhnisch an. Der zuckte mit den Achseln. Die Wache kam herbei
und stocherte mit ihrem Speer in der Luft herum, ohne etwas zu
treffen.
Hicks.
Die Minotaurenwache rammte Dogz das stumpfe Ende des Speers in den
Bauch. Dogz klappte japsend zusammen.
Auf dem Gerüst blätterte der Nachtmeister die letzte Seite um. Er
ließ sich einen Augenblick Zeit, atmete tief durch und zog ein paar
trockene Blätter und andere Dinge aus kleinen Beuteln an seinem
Gürtel. Diese magischen Zutaten warf er in den Vulkan.
Ein Teilchennebel erhob sich aus dem Krater, breitete sich aus und
erfüllte mit seinem orangeroten Licht die Luft. Der Nebel war heiß
und trocken.
»Die Jalopwurz«, knurrte der Nachtmeister und nickte Raistlin zu,
»und der Rest der übrigen Ingredienzien, die man für den Spruch
braucht.«
Raistlin, der an einem der Eckpfosten lehnte, starrte teilnahmslos
geradeaus. Sobald der Nachtmeister sich wieder seinem Zauberbuch
zuwandte, nahm er seine verzweifelten Bemühungen wieder auf, das
Seil durchzutrennen, indem er es an der Holzecke des Gerüsts
rieb.
Hicks.
Auf dem Boden versuchte etwas Unsichtbares, den Katar aus Fesz’
Hals zu ziehen. Keiner achtete mehr auf den toten Schamanen, so daß
Tolpan seinen Fuß auf Fesz’ Kopf stellen und mit beiden Händen
ziehen konnte. Keiner bemerkte, wie der Katar aus dem Körper des
Minotaurus glitt und unter Tolpans Tunika verschwand.
Zum Glück hatte Tolpan den Schluckauf endlich überwunden.
Zu seinem Pech würde er nicht mehr lange unsichtbar
bleiben.
So vorsichtig, wie er konnte, schlich sich der unsichtbare Tolpan
leise an der Minotaurenwache vorbei, die unten am Gerüst stand. Auf
Händen und Knien kroch er eine Stufe nach der anderen zu Raistlin
hoch.
Der Zauberer hörte das seltsame Kratzen und Rascheln auf den Stufen
hinter sich und erstarrte. Noch während er das tat, merkte er, wie
eine scharfe Klinge die Seile durchzuschneiden begann, die seine
Hände banden.
Bei einem Blick über die Schulter sah Raistlin Tolpan auf der
vorletzten Stufe. Der Kender wurde allmählich sichtbar. Raistlin
schüttelte heftig den Kopf, um den Kender zu warnen, aber Tolpan
war so in seine Aufgabe vertieft, daß er Raistlin nicht ansah.
Selbst wenn er das getan hätte, hätte der Kender nicht die leiseste
Ahnung gehabt, was der Magier ihm sagen wollte.
Der Nachtmeister hörte ein Geräusch zu seinen Füßen.
Als Tolpan aufschaute, sah er, wie der Nachtmeister nach ihm
griff.
Pfeilschnell zog Tolpan den Katar zurück und warf sich nach links.
Auf dem Boden des Gerüsts kam er hoch und stach nach vorn und nach
unten. Der Katar sank in den gespaltenen rechten Huf des
Nachtmeisters.
Der Oberschamane der Minotauren heulte vor Schmerz auf, riß den
Katar heraus und schleuderte ihn über die Seite des Gerüsts.
Schäumend vor Wut riß der Nachtmeister einen Fetzen Tuch von seinem
Mantel ab und wickelte ihn um seinen Fuß, aus dem das Blut nur so
strömte. Dann warf er den Kopf hoch und suchte mit geblähten
Nüstern nach Tolpan.
Tolpan war einer Panik so nahe, wie ein Kender das überhaupt sein
kann. Erstarrt vor Schreck versuchte er zu entscheiden, ob er
bleiben oder davonrennen sollte. Da sah er, wie die
hervorquellenden Augen des Nachtmeisters ihn suchten. »Oh-oh«,
murmelte er und entschied sich sofort fürs Rennen.
Aber es war zu spät. Der Nachtmeister hatte die kurze Entfernung
zwischen ihnen im Nu überwunden und schnappte sich den Kender mit
seiner Riesenhand. Mit ohrenbetäubendem Brüllen holte der
Oberschamane aus und schleuderte Tolpan weit hinaus über den
Schlund des Vulkans.
Tolpan fiel und fiel dem flüssigen Glutofen entgegen…
…nur um von etwas aufgefangen zu werden, das zu ihm
heruntersauste.
Dem Nachtmeister blieb vor Verblüffung der Mund offen stehen, als
ein Kyriekrieger den Kender mit seinen Klauen im Flug auffing. Der
Kyrie brauste nach oben, an dem Schamanen vorbei und zum Boden, wo
er den verblüfften Tolpan Barfuß ein Stückchen weiter
absetzte.
Als der Nachtmeister von einer Seite des Gerüsts zur anderen rannte
und hinunterblickte, sah er, daß eine kleine Gruppe Kyrie und
Menschen seine Minotauren in einen Kampf verstrickt hatte.
Zahlreiche Minotauren lagen tot oder verwundet auf dem Boden,
während andere sich zurückgezogen hatten, um sich hinter
Lavabrocken zu sammeln, von wo aus sie Speere warfen und mit
Pfeilen auf die Eindringlinge schossen.
Der Nachtmeister konnte die Menschenfrau, Kitiara, unter den
Angreifern erkennen, doch er hielt vergeblich nach seinen zwei
Schamanen Ausschau, die ihre Posten verlassen hatten und in dem
Getümmel untergegangen waren.
Am Fuß des Gerüsts sah der Nachtmeister einen starken,
braunhaarigen Menschen die einzige Wache bedrohen. Mit einem
Schwert kämpfte er gegen die Stange des Minotaurus. Obwohl er dem
Wächter schwer zusetzte, hielt dieser wacker die Stellung, denn er
nutzte seinen größeren Körper aus, um die Schläge abzuwehren und
den Menschen nicht auf das Gerüst zu lassen.
Da der Nachtmeister von diesem Anblick zunächst erschüttert war,
taumelte er zurück. Alle seine Pläne – verdorben von einem Kender,
ein paar Kyrie und einer Handvoll armseliger Menschen! Dieser
Gedanke ließ seinen wahnsinnigen Zorn neu auflodern.
Der Oberschamane trat vor und hob beide Arme zum Himmel. Er rief
einen magischen Befehl. Sein rechter Arm fuhr hinunter.
Ein Dutzend gleißender Feuerbälle explodierten bei der Gruppe der
Menschen und Kyrie.
Zwei Minotaurensoldaten, die gegen die Eindringlinge gekämpft
hatten, waren sofort eingeäschert. Einer der Kyrie wand sich auf
dem Boden, wie der Nachtmeister zufrieden feststellte. Seine Flügel
standen in Flammen. Ein anderer Kyrie beugte sich über seinen
Kameraden und versuchte, die Flammen zu ersticken.
Lachend über ihre nutzlosen Versuche bereitete der Nachtmeister
seinen nächsten Spruch vor.
Da erinnerte ihn ein Geräusch von hinten an Raistlin Majere.Unten
am Boden wich Tolpan hüpfend den Feuerbällen aus, die überall um
ihn herumsausten. Er wunderte sich über die Vogelwesen, die auf der
Seite von Caramon und, wie er glücklich feststellte, von Tanis und
Kitiara zu kämpfen schienen.
»Hei, Kitiara! Wie bist du denn entkommen?« schrie der Kender, als
er zur Seite rannte und dann auf Händen und Knien durch den Rauch
kroch, weil er anscheinend etwas suchte.
Ihm fiel auf, daß Kitiara ihm nur einen kurzen, finsteren Blick
zuwarf, ehe sie einem heranstürmenden Minotaurus ihr Schwert in die
Seite stieß. Sie wich in einen verrauchten, dunklen Abschnitt
zurück, gefolgt von einigen der Vogelmenschen. Warum hatte Kit
immer so schlechte Laune? Er hatte sie doch nett begrüßt?
Der Rauch ließ Tolpans Augen tränen. Er tastete auf dem Boden
herum, bis seine Hände endlich das fanden, wonach er gesucht hatte.
Bevor er aufstehen konnte, stellte sich ein Fuß fest auf seine
Hand.
Tolpan sah hoch und grinste dann erleichtert. »Hallo, Tanis! Mann,
tut das gut, dich zu sehen. Und Caramon und Kitiara. Wo ist
Flint?«
Der Halbelf starrte ihn forschend an. »Auf wessen Seite stehst du,
Tolpan?« fragte er streng.
»Aber, Tanis«, sagte Tolpan zutiefst gekränkt. »Was für eine Frage!
Ich bin natürlich auf deiner Seite. Bist du nicht auf meiner? Es
stehen nur Raistlin und ich gegen all diese Minotauren, und wir
könnten wirklich etwas Hilfe gebrauchen.«
Tanis sah den Kender an. Dann nahm er langsam seinen Fuß hoch.
Tolpan griff nach seinem Hupak und kam dann mit Tanis’ Hilfe auf
die Beine. Betrübt rieb sich Tolpan die Hand.
»Du hast nicht zufällig ein Schwert übrig, hm?« fragte der Kender
bittend.
Tanis schüttelte den Kopf, zog jedoch einen Dolch aus der Scheide
und gab ihn Tolpan mit dem Heft voran.
Der Kender nahm ihn eifrig. Das Messer würde reichen. Immerhin
hatte er seinen geliebten Hupak wieder.
Der Halbelf lächelte ihm zu. »Klar bin ich auf deiner Seite… wenn
du auf meiner bist. Es hat da in letzter Zeit ein paar komische
Gerüchte über dich gegeben.«
»Wirklich?« meinte Tolpan mit breitem Grinsen. »Tja, ich habe
einiges erlebt. Erst wurden wir von dem Kapitän der Venora verraten – ich mochte ihn sowieso nicht. Ich
habe ihn Alte Walroßfratze genannt. Dann kam dieser unglaublich
große Sturm, bloß war das gar kein richtiger Sturm, sondern –
«
Drei Minotauren mit beschlagenen Keulen und Schwertern brachen
durch den Rauch und griffen sie an.
Tanis fuhr wütend herum, bremste ihren Angriff ab und rannte dann
nach einer Seite davon. Tolpan lief in die andere
Richtung.
Einer der Kyrie war bei dem Feuerballbeschuß gefallen. Ein anderer
hatte seinen Kameraden zur Seite gezogen und war von der Gruppe
getrennt worden.
Tanis war verschwunden.
Die anderen sammelten sich an einem kleinen Vorsprung. Eine Gruppe
Minotaurensoldaten setzte ihnen zu. Kitiara und Yuril schlugen mit
dem Rücken zum Fels mit ihren Schwertern nach zwei Stiermenschen.
Wolkenstürmer und drei andere Kyriekrieger kämpften in der Nähe und
wehrten mehrere Minotauren mit gekrümmten Keulen ab.
Einer der Minotauren kam näher und stach mit dem Schwert nach
Yuril. Er traf sie in die Seite. Sofort fuhr Kitiara herum und
schlitzte dem Angreifer am Ellbogen den Arm auf. Der Minotaurus
wich zurück. Er umklammerte den Arm, um den Blutfluß zu stoppen.
Sein Kamerad schubste ihn beiseite und stürzte sich auf Kitiara,
solange sie ihre Stellung noch nicht wieder eingenommen
hatte.
Wenigstens dachte Kit, er hätte sich gestürzt, aber als sie
ungeschickt auswich, fiel der Minotaurus einfach weiter und blieb
mit dem Gesicht nach unten tot liegen. In seinem Nacken steckte ein
kleines Messer.
Sie erhaschte gerade noch einen Blick auf den Kender, der
davonrannte.
Yuril brach zusammen. Kitiara hielt sie an den Schultern fest.
»Schaffst du’s?« fragte sie. Yuril nickte schwach und wurde
ohnmächtig.Tolpan konnte Dogz einfach nicht finden.
Die Minotauren hatten den Verräter zum Rand des Schauplatzes
geschleppt, wo ein Stiermann den Gefangenen abseits vom übrigen
Geschehen nervös bewachte. Dogz saß betroffen da und starrte auf
seine Füße. Er war in seiner eigenen Welt. Plötzlich hörte er einen
lauten Rums. Als er hochsah, ging der Minotaurensoldat in die Knie,
griff sich an den Hals und kippte dann vornüber in den
Staub.
Tolpan schlenderte heran.
»Liegt alles im Handgelenk«, prahlte er. »Nicht jeder Kender kann
einen Hupak so gut werfen wie ich. Ach, ich könnte wirklich
behaupten, kaum ein Kender kann einen Hupak so gut werfen wie ich.
Gut, vielleicht Onkel Fallenspringer, aber der hat es mir
schließlich beigebracht!«
Mitten in dem lärmenden, rauchverhangenen Getümmel um sie herum
band Tolpan Dogz rasch los.
Dogz bewegte sich nicht. »Du bist zurückgekommen, Freund Tolpan«,
sagte er, doch seiner Stimme fehlte der gewohnte hallende
Klang.
»Das war ich dir doch schuldig, oder?«
»Es ist schön, daß du wieder so bist wie früher«, sagte der
Minotaurus. »Also hat das Gegengift der Frau gewirkt.«Der
Minotaurensoldat erwies sich als zäh, wild und kampferfahren.
Caramon kam nicht an ihm vorbei.
Es schien ein Patt zu sein, bis Tanis angelaufen kam und Caramon
mit seinem Schwert unterstützte. Der Halbelf schlug zu, während
Caramon weiter zustach. Ihre Waffen trafen gegen die Stange des
Minotaurus.
Zum ersten Mal sah Caramon einen Anflug von Panik in den Augen des
Soldaten. Der Minotaurus stolperte und zog sich ein paar Schritte
zurück. Alle seine Bewegungen waren jetzt nur noch Verteidigung,
und Tanis und Caramon nutzten ihren Vorteil. Der Minotaurus
ermüdete offensichtlich allmählich unter ihrem Angriff und würde
nicht mehr lange durchhalten.Auf dem Gerüst stellte sich der
Nachtmeister Raistlin Majere.
Nachdem Tolpan das Seil um seine Hände durchtrennt hatte, hatte der
junge Magier rasch auch den Strick um seine Füße gelöst. Jetzt
stand er blaß und schwitzend mit festem Blick da wie ein Tier, das
gleich losspringen würde.
»Die Dinge laufen nicht gerade gut… was?« sagte Raistlin mit
leiser, entschlossener Stimme.
Der Nachtmeister war vom alptraumhaften Ablauf der Ereignisse
überrollt worden. Aber jetzt weckte der Mensch vor ihm, der
irgendwie seine Pläne durchschaut und sich mit anderen verschworen
hatte, um sie scheitern zu lassen, erneut seine Entschlossenheit.
Der Oberschamane der Minotauren starrte auf den viel kleineren
Raistlin herab. Zufrieden stellte er fest, daß der winzige Mensch
keine Waffe hatte.
»Der Spruch ist gesagt«, grollte der Oberschamane. »Jetzt fehlt nur
noch das Opfer. Und wie ich sehe, bist du immer noch hier, Raistlin
Majere aus Solace. Mir scheint, es hat genug Unterbrechungen und
Verzug gegeben. Die Stunde deines Todes ist da. Sargonnas
wartet!«
Raistlin war weiter vorgerückt, während der Nachtmeister gesprochen
hatte. Jetzt sprang er los – von dem Oberschamanen zum Zauberbuch,
das auf dem Pult lag. Er riß das Buch hoch und hielt es vor
sich.
Der Nachtmeister hielt inne und hinkte überrascht auf Raistlin zu.
»Was soll das, Zauberer?« sagte der Minotaurenschamane höhnisch.
»Glaubst du, dir bleibt noch Zeit, einen Spruch zu lernen, um mich
zu besiegen? Oder willst du mein Zauberbuch bloß als Schild
verwenden?«
Raistlin fuhr herum und schleuderte das Zauberbuch über den Schlund
des Vulkans.
»Nein!« schrie der Nachtmeister, der vergeblich dem Buch
nachsetzte. »Nei-i-i-n!«
Gerade als der Minotaurus Raistlin den Rücken zudrehte, kamen Tanis
und Caramon oben auf dem Gerüst an. Sie warfen ihre Waffen auf die
große Gestalt. Zwei Schwerter fuhren in den Rücken des
Nachtmeisters. Der Oberschamane hing noch einen Augenblick am Rand
des Gerüsts, verlor dann den Halt und stürzte kopfüber in den
Feuerkrater.
Caramon und Tanis umarmten Raistlin.
Fragend schaute der junge Magier auf den Kampf, der unten
weiterging.
»Kit geht es gut«, erklärte Caramon schnell. »Tolpan auch. Wir tun
unser Bestes, die Minotauren zu besiegen!«
»Wir haben keine Zeit mehr«, sagte Raistlin angespannt. »Wir müssen
uns beeilen.«
Caramon und Tanis sahen, daß aus dem Schlund des Vulkans bereits
eine rote Wolke drang. Wie ein feuriger Wirbelwind wuchs sie an.
Sie mußten das Gesicht von der sengenden Hitze abwenden.
Ein Geräusch wie das von hunderttausend Pferdehufen begleitete die
Wolke. Caramon warf einen kurzen Blick in den orangeroten Feuersee,
dessen riesige Wellen hochschwappten, bevor Raistlin ihn fortriß.
Caramon und Tanis wurden von dem jungen Magier die Stufen des
Gerüsts hinuntergedrängt.»Kitiaras Gegengift?« fragte der Kender
begriffsstutzig.
»Ich habe es dir statt deiner üblichen Doppelportion verabreicht«,
sagte Dogz ernst.
»Ja, genau, darüber hatte ich noch mit dir reden wollen. Der Trank
hat noch nie besonders gut geschmeckt, aber beim letzten Mal war es
noch schlimmer…«
Plötzlich hielt der Kender inne. Er hörte ein seltsames Geräusch,
das ganz anders klang als die Kampfgeräusche, die er bisher gehört
hatte. Tolpan schaute zum Gerüst hoch. Es stand leer. Ein
Feuersturm brauste aus dem Maul des Vulkans empor und loderte über
den Platz.
»Oh-oh«, schluckte Tolpan. »Darüber reden wir später. Jetzt
verschwinden wir lieber.« Er zupfte an Dogz, der noch nicht
aufgestanden war.
»Ich komme nicht mit«, sagte Dogz.
»Was machst du?«
»Ich komme nicht mit«, wiederholte Dogz. Jetzt stand er auf, bückte
sich und legte dem Kender die Hände auf die Schultern. Dogz sah
seinem Freund in die Augen. »Ich habe meiner Rasse Schande
gemacht«, sagte der Minotaurus. »Ich habe Befehle mißachtet. Ich
bin entehrt.«
»Wie?« stotterte Tolpan, der sich wild umsah. Minotauren rannten
schreiend an ihnen vorbei und warfen ihre Waffen weg. In dem
Durcheinander von Feuer und Rauch konnte er keinen seiner Freunde
entdecken. »Was soll das heißen? Du hast mir das Leben gerettet!
Für mich bist du ein Held!«
Dogz drückte Tolpans Schultern. Seine Augen waren feucht. »Geh,
Freund Tolpan«, sagte Dogz traurig. »Rette dich. Ich bin es nicht
wert, gerettet zu werden. Ich bin entehrt.« Er setzte sich wieder
hin.
Tolpan wollte wütend etwas erwidern, als eines dieser riesigen,
gefiederten Wesen herunterstieß und ihn in die Luft hob. Das Wesen
schloß sich einigen anderen fliegenden Vogelmenschen an. Jeder
schien einen Menschen mitzuschleppen.
Die Kyrie wendeten scharf und stiegen dann auf. Sie hatten sich
gerade über den Rauch und das Feuer erhoben, als sie eine
furchtbare Explosion hörten. Als Tolpan und die anderen sich
umschauten, konnten sie eine kolossale, rote Flammensäule aus dem
Mund des Vulkans hochschießen sehen. Die Säule stand in der Luft
und formte sich zu einer Gestalt, die einem Riesenkondor sehr
ähnlich sah. Minutenlang ließ der Kondor tödliches Feuer auf jeden
herunterregnen, der noch auf der Spitze des Vulkans ausharrte. Nach
einiger Zeit löste sich der Kondor auf, die Säule zog sich zurück,
und der Vulkan beruhigte sich.
Sargonnas war gekommen und wieder gegangen.
Epilog
Die Orughi warteten zu Hunderten vor der Küste von Spornheim, bis sie langsam erkannten, daß der Zauber nicht gewirkt hatte. Sargonnas kam nicht – noch nicht. Mit Enttäuschung in den Knopfaugen drehten die Orughi von Karthay ab und hielten auf die kleineren, noch ungastlicheren Inseln zu, die sie bewohnten. Sie schwammen nach Norden. Die vielen hundert starken Flossen wühlten das Wasser so auf, daß man nach ihrem Abzug eine meilenlange Schaumspur sehen konnte. Die Oger in ihren Kriegsschiffen nahe der Staße am Land Ho erkannten ebenfalls, daß die Zeit vorüber war. Oolong Xak, der Kommandant der Flotte der Ogerstämme, gab den Dutzenden von Kriegsschiffen das Zeichen zum Umkehren – zurück nach Ogerstadt und zum Kontinent Ansalon. Wenigstens, dachte Oolong Xak aufatmend, hatten die Oger kein Bündnis mit den verachteten Orughi geschlossen. Schlimm genug, daß die Ogerhäuptlinge zugestimmt hatten, sich den Minotauren anzuschließen. Die Stiermenschen hatten mit ihrem verrückten Traum von Sargonnas Rückkehr jedermann an der Nase herumgeführt.
Weitab im Palast der Stadt Lacynos nahmen die acht Minotauren vom Obersten Kreis die Nachricht vom Mißerfolg des Nachtmeisters unterschiedlich auf.
Eines war jedenfalls sicher. Diese Wendung der Ereignisse bedeutete einen großen Ehrverlust für ihren König. Nachdem dieser von dem Fehlschlag gehört hatte, verließ er auf der Stelle den Obersten Kreis und kehrte in seine Residenz zurück.
Obwohl Atra Cura den König unterstützt hatte, warf diese politische Fehleinschätzung kein schlechtes Licht auf den Anführer der minotaurischen Piraten. Statt dessen bestärkte sie ihn in seinem größenwahnsinnigen Glauben, daß der König stürzen und daß er, Atra Cura, sein Nachfolger sein würde – vielleicht schon im nächsten Jahr.
Der Marinekommandant, Akz, der Kommandant der minotaurischen Armee, Inultus, der Gelehrte und Historiker, Juvabit, der Schatzmeister, Groppis und der Meister der Baugilde, Bartill – diese fünf Ratsmitglieder verharrten noch lange im Saal, nachdem sie die bestürzende Nachricht vom Tod des Nachtmeisters erhalten hatten. Sie versuchten einander mit ihren Beteuerungen zu übertrumpfen, daß jeder insgeheim die Schwächen an den Plänen des arroganten Oberschamanen erkannt hätte.
Vor seiner Abreise sprach Victri, der Führer der Landminotauren, eindringlich über den Patriotismus, der im Herzen jedes Stiermenschen brannte, und wie das minotaurische Königreich trotz gelegentlicher Rückschläge eines Tages ganz Ansalon überrennen würde.
Was Kharis-O, die Vertreterin der minotaurischen Nomaden, anging, so funkelte sie die anderen wütend an und verschwand ohne ein Wort.Auf der Insel Karthay sammelten sich die Gefährten wieder auf dem hochgelegenen Platz, wo sie in der Nacht vor dem Angriff auf die Ruinenstadt gelagert hatten.
Die minotaurischen Truppen waren versprengt. Wer sich noch auf dem Gipfel des Vulkans aufgehalten hatte, war von der Säule aus Feuernebel verbrannt worden, die kurz aus dem Krater aufgeflammt war. Nach dem Ende der Kämpfe war die Armee der Wüstentiere und Roche, die den Gefährten geholfen hatte, die Minotauren zu besiegen, in ihre Baue und Höhlen zurückgekehrt.
Kirsigs Körper wurde von Flint ins Lager zurückgetragen. Der Zwerg hatte ganz allein ein einfaches Grab ausgehoben, an einer Stelle, wo der Boden nicht allzu hart war. Er steckte ihr Schwert in den frischen Hügel, damit es alle sehen konnten.
»Kirsig sagte, sie wäre Putzfrau und Heilerin«, sprach der Zwerg an ihrem Grab. Er zupfte an seinem Bart und schaute zu Boden. »Aber diejenigen von uns, die an ihrer Seite gekämpft haben, wissen, daß sie das wahre, nicht wankende Herz eines Kriegers hatte. Und wir werden sie vermissen«, fügte er hinzu, während er ein paar Tränen, die man selten bei ihm sah, aus den Augen wischte.
Zwei der Seglerinnen von der Castor und drei der Kyriekrieger waren bei dem Angriff umgekommen, einschließlich Vogelgeist. Es war Vogelgeist gewesen, der auf dem Gipfel des Dachs der Welt verbrannt war.
Sturm trauerte um den Kyrie, der ihn vor dem
sicheren Tod in der Grube des Untergangs bewahrt hatte.
Wolkenstürmer trauerte um seinen Freund. Ja, Vogelgeist war in der
Schlacht gestorben, und das war für jeden Kyrie ein ehrenvoller
Tod. Aber sein Körper war auf der Bergspitze zurückgeblieben, als
der Vulkan mit seinem tödlichen Feuerregen ausbrach. »Unsere Toten
werden immer in einem Scheiterhaufen über der Erde verbrannt«,
erzählte Wolkenstürmer Sturm traurig. »Aber die Asche muß in alle
vier Himmelsrichtungen verstreut werden. Sicher hat die Lava den
Körper von Vogelgeist bedeckt. Im Tod wird er nie frei
werden.«
Wo sie verletzt worden war, fühlte Yurils Seite sich wund an, eine
Wundheit, die sie für den Rest ihres Lebens begleiten würde. Aber
sie würde sich erholen und überleben. Caramon versorgte sie während
ihrer Genesung, brachte heißen Tee und Heilmittel bei Tag und
Decken bei Nacht.
Wenn Flint die beiden beobachtete, beschwerte er sich jammernd bei
Tanis: »Er erinnert mich an Kirsig – verhält sich wie eine Frau.«
Tanis nickte nur, denn er bewunderte Caramons
Zärtlichkeit.
Die Kyrie flogen weiterhin lange Kundschaftsflüge. Eines Tages
kehrte einer zurück und berichtete Wolkenstürmer, daß ein Schiff,
die Castor, an der Südküste wartete. Als
Yuril und die beiden überlebenden Seefahrerinnen das hörten,
berieten sie sich und gaben bekannt, daß sie beschlossen hätten,
wieder in See zu stechen. Erstaunt versuchte Caramon, Yuril zu
überreden, bei ihnen zu bleiben.
»Nein«, lachte die große, starke Steuerfrau. »Du verstehst das
nicht, was? Mit Kapitän Nugeter ist nicht gut Kirschenessen, aber
ich gehöre aufs Meer, und das weiß er. Du hast deinen Bruder
wieder. Ich muß wieder aufs Meer zurück.«
Raistlin und Tanis verabschiedeten sich von Yuril und gelobten
ewige Dankbarkeit. Flint schüttelte ihr und den anderen feierlich
die Hand. Kit umarmte Yuril. Caramon drückte Yuril nach kurzem
Schmollen einen Kuß auf die Lippen, der so lange dauerte, daß
Tolpan ihn antippen mußte.
Drei der Kyrie trugen die Seefahrerinnen zum Schiff zurück, das sie
erwartete.
Vier Kyrie kehrten zurück – die drei, die zur Castor geflogen waren, und ein Bote von der Insel
Mithas.
Ein Posten brachte Nachricht aus dem Kerker in Atossa. Morgenhimmel
war tot. Der gebrochene Vogelmann, Wolkenstürmers Bruder, war
gestorben, ohne seinen grausamen Häschern etwas zu
verraten.
Wolkenstürmer weinte, als er dies erfuhr.
»Du mußt zurück«, sagte der Kyriebote zu Wolkenstürmer.
»Sonnenfeder ruft dich. Er sagte, ich sollte dir ausrichten, daß
die Herrschaft nun an dich fallen wird.«
Wolkenstürmer sammelte seine Himmelskrieger und gab bekannt, daß
sie sofort nach Mithas zurückkehren würden. Die Gefährten kamen
zusammen, um sich traurig von dem alten Volk zu verabschieden, das
ihnen dabei geholfen hatte, Sargonnas aufzuhalten.
»Wir werden uns wiedersehen«, sagte Raistlin feierlich.
»Das werden wir ganz bestimmt«, sagte Wolkenstürmer.
Sturm schloß Wolkenstürmer steif, aber herzlich in die
Arme.
Caramon trat vor, ohne zu wissen, was er sagen oder tun sollte. Er
hatte Wolkenstürmer in der kurzen Zeit so gut kennengelernt. Er
würde seinen Kyriefreund nie vergessen.
Wolkenstürmer sah den Menschen an. Er hob Caramons Arm an und zog
den Ärmel hoch, bis er die Narbe von der Nacht des Seedrachens
fand. Der Kyrie berührte die Narbe mit zwei Fingern und führte dann
die beiden Finger an seine Lippen.
»Krieger«, sagte Wolkenstürmer. »Bruder.«
»Krieger«, wiederholte Caramon. »Bruder.«
Als die Kyrie losflogen, erzeugten sie mit ihren riesigen Schwingen
ein eindrucksvolles Rauschen.Seit dem Angriff auf die Ruinenstadt
und der Niederlage des Nachtmeisters waren sieben Tage vergangen,
seit der Abreise der Kyrie zwei Tage.
Es herrschte Aufbruchstimmung unter den Gefährten. Obwohl einige
verletzt waren und ihre Wunden pflegten, ging es keinem so
schlecht, daß er oder sie nicht weiterziehen konnte. Dennoch
verharrten die sieben Freunde auf dem hohen Plateau über der
zerstörten Stadt, wo sie in der Ferne noch den rauchenden Gipfel
des Dachs der Welt ausmachen konnten.
Tolpan hatte versucht, alle zu überzeugen, daß er eigentlich nie
richtig böse gewesen war. Es war alles ein fabelhaftes Theater
gewesen, erklärte der Kender beharrlich.
Dennoch hatte Sturm dem Kender eine ausführliche Predigt gehalten.
Insgeheim glaubte er, daß der böse Kender ihn in Atossa um ein Haar
umgebracht hätte. Keiner konnte den Solamnier vom Gegenteil
überzeugen. Und keiner wußte so recht, ob er es überhaupt versuchen
sollte.
Am späten Nachmittag, als die Essenszeit nahte, sah Flint, wie
Tolpan und Sturm wieder heftig stritten. Auf einmal krümmte sich
der Zwerg und hielt sich den Bauch vor Lachen. Sturm wollte wissen,
was Flint so komisch fand.
»Ke – Ke – Kender ohne Zopf!« platzte der Zwerg heraus. »Solamnier
mit halbem Schnurrbart!«
Alle lachten mit – bis auf Sturm, der nicht verstand, was daran so
überaus lustig sein sollte.
Tolpan lachte am längsten. Als er sich schließlich wieder beruhigt
hatte, wurde er ganz ernst. »Du glaubst mir doch, nicht wahr,
Raistlin?«
»Ja, das tue ich«, sagte Raistlin schlicht.
»Seht ihr! Raistlin glaubt mir!« rief der Kender
strahlend.
»Mein Bruder ist sehr klug«, sagte Kitiara, die ein Feuer für das
Abendessen aufbaute, »aber er hat eine Schwäche für
Kender.«
»Was glaubst du, Kitiara?« fragte Sturm, der auf eine Verbündete
hoffte.
»Das habe ich schon gesagt«, antwortete Kit. »Er war böse, bis Dogz
seinen Trank durch mein Gläschen Leucrottaspeichel ersetzte. Ohne
Dogz wäre Tolpan immer noch böse – und wir vielleicht alle
tot.«
»Leucrottaspeichel?« wiederholte Sturm verwirrt.
»Er wirkt bei Liebestränken als Gegengift«, warf Tanis ein, »und
Kitiara dachte, wenn er bei Liebestränken wirkt, könnte er bei dem
Gesinnungstrank dieselbe Wirkung haben. Hat er wohl auch, denn
Tolpan ist hier und ist nicht mehr böse.«
»Der große Experte für Liebestränke«, murmelte Flint, der die Augen
verdrehte. Er gab Kit einen großen Topf, damit sie Wasser holen
ging.
Tolpan grinste breit, um jedem zu beweisen, daß er nicht mehr böse
war.
»Hm, vielleicht«, sagte Sturm zweifelnd.
»Ist das möglich?« fragte Caramon Raistlin.
»Möglich«, sagte sein Bruder unbeteiligt.
»Was ich schon lange mal fragen wollte, Kit«, sagte Tanis, »wenn du
mit Onkel Nelltis eine Leucrotta gejagt hast, wie bist du dann so
schnell nach Karthay gekommen?«
Auch die anderen waren auf die Antwort gespannt. Aber Kit war
verschwunden, um den Kochtopf zu füllen.
Als sie wiederkam, diskutierten die anderen bereits über ein neues
Thema – die vertraute Debatte der letzten Woche: Wo sollten sie
hinziehen, und was sollten sie als nächstes tun?
Seit acht Tagen lagerten sie hier oben, begruben die Toten,
verabschiedeten sich von heimkehrenden Freunden und schoben ihre
eigenen Pläne auf.
»Ich sage euch, was ich gerne tun würde«, sagte Caramon kühn. »Ich
würde gerne nach Mithas zurückkehren und Wolkenstürmer und die
Kyrie im Krieg gegen die Minotauren unterstützen. Ich möchte den
Tod von Morgenhimmel rächen!«
»Ich würde auch gern nach Mithas zurückgehen«, stimmte Sturm zu.
»Ich würde diesem Gladiator, Tossak, gern noch einen Hieb
versetzen, jetzt, wo ich wieder fit bin.«
»Gibt es viele Schätze in diesen Minotaurenstädten?« fragte
Kit.
»Klar!« rief Tolpan.
»Ich weiß nicht«, sagte Tanis nachdenklich. »Ich vermisse Solace,
aber wenn wir schon einmal so weit weg sind – nämlich auf der
anderen Seite der Welt –, finde ich doch, daß wir das nutzen
sollten, um Land und Leute kennenzulernen. Was meinst du,
Raistlin?«
Der Wind hatte aufgefrischt. Die Nacht brach an, und mit ihr wurde
es kälter. Lunitari und Solinari gingen auf.
Der junge Magier lächelte dünn. »Wir können nicht für immer
hierbleiben. Und der Heimweg wird sicherlich kein Zuckerschlecken.
Also finde ich, wir sollten morgen früh abstimmen. Wie das auch
ausfällt, wir machen das, was wir beschließen, und brechen
auf.«
Sie wurden von ungewohntem Krach unterbrochen. Die Gefährten sahen
zu Flint hinüber, der am Feuer stand. Ein appetitlicher Geruch
wehte aus dem großen Topf herüber. Der graubärtige Zwerg funkelte
sie an, während er mit einem großen Holzlöffel gegen den Topf
schlug.
»Reden, reden, reden!« schäumte der Zwerg. »Kommt essen!«